ZOiS Spotlight 23/2025

Sicherheit durch Bildung: Estlands Sprachpolitik

Von Félix Krawatzek 17.12.2025

Ein Fünftel der Bevölkerung Estlands ist russischer Herkunft. Um diese Minderheit besser zu integrieren, wird der russischsprachige Unterricht schrittweise abgeschafft. Eine neue ZOiS-Studie zeigt, wie diese Politik in der estnischen Gesellschaft, insbesondere der russischstämmigen Community aufgenommen wird.

Schülerinnen und Schüler sitzen in einem Klassenzimmer in einer Schule in Tallin.
Schüler*innen in Tallinn: Bis 2030 soll an öffentlichen Bildungseinrichtungen ausschließlich auf Estnisch unterrichtet werden. IMAGO / Scanpix

In Estland hat die vollumfängliche Invasion der Ukraine durch Russland den Debatten über die Integration der großen russischsprachigen Bevölkerung des Landes neue Dringlichkeit verliehen. Seitdem treibt die Regierung die Einführung des estnischsprachigen Unterrichts landesweit voran. Ende 2022 fiel der Beschluss, dass ab 2024 alle staatlich finanzierten Bildungseinrichtungen bis 2030 auf Estnisch umgestellt werden müssen. Schulen und Kindergärten, in denen der Unterricht gegenwärtig auf Russisch stattfindet, werden schrittweise abgeschafft. Diese Politik soll, so die Hoffnung, nicht nur die soziale Integration, sondern auch die wirtschaftlichen Aussichten der russischsprachigen Bevölkerung verbessern.

Um herauszufinden, wie die Bevölkerung über eine ausschließlich estnischsprachige Bildung denkt, hat das ZOiS im Rahmen des vom Europäischen Forschungsrat geförderten Forschungsprojekts MoveMeRU im Herbst 2025 eine Umfrage unter 2.000 Menschen in Estland durchgeführt. Dabei wurde bewusst ein überproportional hoher Anteil an Befragten mit russischem Hintergrund (1.018) einbezogen.[1] Die Umfrage ergab deutliche Unterschiede in den Meinungen zwischen der russischen Minderheit und der restlichen Bevölkerung.

Trennlinien: Sprache, Migrationshintergrund, Alter und Einkommen

Russischsprachiger Unterricht ist in Estland bereits seit den 1990er Jahren ein umstrittenes Thema. Im estnischen Recht gilt Russisch als „Fremdsprache“, obwohl fast 30 Prozent der Bevölkerung, darunter Menschen mit ukrainischem und belarusischem Hintergrund, es als ihre Muttersprache betrachten. Im Jahr 2025 machen Russ*innen 20,9 Prozent der Bevölkerung aus.

Unsere Daten zeigen erhebliche Unterschiede in der Zustimmung zur Sprachumstellung (siehe Grafik). Mehr als 80 Prozent der estnischen Mehrheitsbevölkerung befürworten die vorgeschlagene Reform. Im Gegensatz dazu befürworten unter den Befragten mit russischem Hintergrund etwa 35 Prozent der über 35-Jährigen und etwas mehr als 50 Prozent der jüngeren Befragten diese Politik. Dies deckt sich weitgehend mit den Werten, die das estnische Meinungsforschungsinstitut Turu-uuringute AS in einer Umfrage im Dezember 2023 ermittelte.

Sprache und Migrationshintergrund sind hier nicht die einzigen Trennlinien. Besser situierte Befragte befürworten die Maßnahme deutlich häufiger. Auch die estnische Bevölkerung unter 35 Jahren befürwortet den Übergang eher. Darüber hinaus zeigen unsere Daten regionale Unterschiede: Die Zustimmungsraten sind im Landkreis Ida-Viru, der an Russland grenzt und in dem 73 Prozent der Bevölkerung russischer Herkunft ist, am niedrigsten. Auch die Sprache, in der die Befragten selbst unterrichtet wurden, spielt eine Rolle. Diejenigen, die auf Estnisch unterrichtet wurden, befürworten die Politik eher, während diejenigen, die auf Russisch unterrichtet wurden, eher dagegen sind.

Widerspruch aus grundsätzlichen und praktischen Gründen

Die Umfrage enthielt eine offene Frage, in der die Teilnehmenden gefragt wurden, wie sie zu der Sprachumstellung stehen und was ihrer Meinung nach damit erreicht werden soll. Diese Frage wurde von fast 95 Prozent der Befragten beantwortet, am häufigsten von Personen mit russischem Hintergrund unter 35 Jahren und weniger häufig von anderen Befragten derselben Altersgruppe.

Die negativen Antworten der Befragten mit russischem Hintergrund lassen sich in zwei Hauptkategorien einteilen. Einige kritisieren den ihrer Meinung nach assimilatorischen oder diskriminierenden Charakter der Politik. So ist beispielsweise eine 59-jährige Frau aus dem Kreis Ida-Viru der Ansicht, dass das letztendliche Ziel der Politik darin bestehe, „russischen Kindern ihre Zukunft zu nehmen”. Ein junger Mann (25) gibt in ähnlicher Weise an, das Ziel sei es, „alle russischsprachigen Schüler zu quälen und zu verärgern”. Ein Befragter (64) aus Tallinn beklagt, dass die Sprachumstellung darauf abziele, „die Russen zu demütigen“, und behauptete, dass „die estnischen Sprachkurse für Erwachsene schlecht, selten und nur zum Schein angeboten werden. Und jetzt, da diese Aufgabe [Russischsprachige zum Erlernen der estnischen Sprache zu bewegen] nicht erfüllt wurde, stellt der Staat die gesamte Bildung auf Estnisch um, obwohl es an Lehrern und Lehrmethoden mangelt.“

Andere Befragte mit russischem Hintergrund lehnen die Politik aus praktischen Gründen ab und verweisen auf den Mangel an qualifizierten Lehrkräften, den schlechten Unterrichtsstandard oder die übereilte Umsetzung. Eine 41-jährige Frau befürwortet die Politik, behauptet jedoch, dass „die Umsetzung ein komplettes Chaos ist. Die Lehrer sind nicht bereit. […] Die Lehrbücher sind nicht fertig. […] Es gibt keine Methodik.“ Dies spiegelt die in der öffentlichen Debatte geäußerte Kritik wider. Lehrkräfte beklagen die hohe Arbeitsbelastung, den Mangel an geeigneten Unterrichtsmaterialien und die unzureichenden Estnischkenntnisse in Teilen der Bevölkerung, was ihre Aufgabe besonders erschwert. In unserer Umfrage äußert sich auch ein kleiner Teil der estnischen Befragten skeptisch hinsichtlich der Durchführbarkeit der Politik.

Unterstützung sogar unter Befragten mit russischem Hintergrund

Neben Kritik finden wir auch Lob für den Sprachwechsel, sogar unter Personen mit russischem Hintergrund und insbesondere unter denjenigen, die die Umfrage auf Estnisch ausgefüllt haben. Sie betonen den erhofften sozialen Zusammenhalt und die potenziellen wirtschaftlichen Vorteile, die eine bessere Integration ihren Kindern bringen würde. Kinder, deren Eltern die Sprachumstellung unterstützen, sind eher bereit, diese mitzugehen. Eine positive Einstellung ist insbesondere unter den in Tallinn lebenden Russ*innen weit verbreitet. Eine 34-jährige Frau hoffte, dass die Politik zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit in der russischsprachigen Gemeinschaft führen würde, „da es schwierig ist, ohne Sprachkenntnisse einen Job zu finden”. Andere waren der Meinung, dass der Übergang zum estnischsprachigen Unterricht schon längst hätte stattfinden sollen.

Die Befragten ohne russischen Hintergrund sind sich in ihrer Zustimmung überwiegend einig. In ihren Antworten auf die offene Frage erwähnen viele die Bedeutung des sozialen Zusammenhalts und die Bedrohung, die der Einfluss Russlands auf die russische Minderheit in Estland darstellt. Die Frustration einer 62-jahrigen Frau ist für diese Meinung typisch: „Die Russen sollten verstehen, dass sie keine privilegierten Menschen sind, die die Amtssprache des Landes nicht beherrschen müssen. “ Ein 22-jähriger Mann aus Tallinn ist überzeugt, dass die Politik „ihnen [den Russischsprachigen] helfen wird, sich besser in das soziokulturelle Umfeld Estlands zu integrieren“, und befürwortet das erklärte Ziel, „der neuen Generation patriotische Gefühle zu vermitteln“.

Entfremdung oder Integration?

Der Sprachwechsel ist Teil einer breiteren Debatte über sozialen Zusammenhalt und Sicherheit in Estland. Das Land ist seit fast zwei Jahrzehnten Opfer zahlreicher verdeckter russischer Angriffe. Zu den jüngsten Beispielen zählen die Verletzung des nationalen Luftraums durch russische Kampfflugzeuge, Cyberangriffe und das nächtliche Entfernen estnischer Grenzinfrastruktur in der Grenzstadt Narwa. Russischsprachige Est*innen sind ein wichtiges Ziel der Kreml-Propaganda, und die russischen Medien instrumentalisieren die estnische Minderheitenpolitik, um Feindseligkeiten zu schüren. Unterdessen versucht Estland, die Herzen und Köpfe seiner jungen russischsprachigen Bürger*innen zu gewinnen. Die estnische Regierung bemüht sich, sie in die Lage zu versetzen, russische Fake News zu durchschauen, beispielsweise durch das Projekt Fake Detective. Den sozialen Zusammenhalt in einem derart hoch politisierten Umfeld zu stärken, ist somit eine existenzielle Frage für Estland. Auch wenn die Sprachumstellung in einigen Teilen der Gesellschaft Identitätskonflikte wecken könnte, ist die politische Hoffnung, dass er eine Mehrheit der Est*innen mit russischem Hintergrund dazu ermutigt, sich besser in Estland zu integrieren.


[1] Ein „russischer Hintergrund” bezieht die Sozialisationserfahrung von Familienmitgliedern in (Sowjet-)Russland ein und erfasst das historische Migrationsmuster der Familie. Befragte, die in Russland aufgewachsen sind oder mindestens einen Elternteil oder zwei Großeltern hatten, die in (Sowjet-)Russland sozialisiert wurden, wurden in unserer Stichprobe als Personen mit russischem Hintergrund betrachtet.


Dr. Félix Krawatzek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZOiS, wo er den Forschungsschwerpunkt „Jugend und generationeller Wandel“ sowie das vom Europäischen Forschungsrat geförderte Projekt „Moving Russia(ns): Weitergabe von Erinnerungen zwischen den Generationen im Ausland und in der Heimat (MoveMeRU)“ leitet.