ZOiS Spotlight 10/2025

Die vielen Gesichter der zweiten „russischen“ Generation in Deutschland

Welches Zugehörigkeitsgefühl haben junge Deutsche mit russischem Elternhaus? Und wie formen sie ihre politischen und gesellschaftlichen Ansichten? Eine Studie des ZOiS zeigt, dass Menschen mit russischem Erbe und deutscher Sozialisation sowohl progressive als auch traditionelle Werte in sich vereinen.

17. März 2024: Am Tag der Präsidentschaftswahl in Russland sorgten Anhänger und Gegner Putins vor dem Generalkonsulat in Bonn, Deutschland, für aufgeladene Stimmung. IMAGO / Beautiful Sports

Auf TikTok und Instagram beschreibt sich das bekannte „ostblock girl“ Elli als „baschkirisch & russlanddeutsch“. Ihr Kanal widmet sich „fashion, beauty & migra zeug“. Männer, so meint sie in einem Video, die Blumen für ihre Freundinnen kaufen, unterstützen die Gleichstellung der Geschlechter. Frauen verdienten schließlich weniger und seien auch in anderer Hinsicht benachteiligt, warum sollten sie also nicht ab und zu Blumen bekommen? Außerdem gebe es so etwas wie 50/50 gar nicht, argumentiert sie. Wahre Gleichberechtigung würde bedeuten, dass „Männer stillen und ihre Karriere unterbrechen, um sich um die Kinder zu kümmern“. Elli spiegelt Werte wider, die das liberale demokratische System Deutschlands vermittelt, etwa das Streben nach Gleichberechtigung, und greift gleichzeitig russische Diskurse über traditionelle Geschlechterrollen auf.

Der russische Staat übt zunehmend Einfluss auf seine Diaspora aus und positioniert sich als „letzte Verteidigungslinie für traditionelle Werte“, die im Westen vermeintlich immer mehr verfallen. Mit seiner Betonung der kulturellen und nationalen Homogenität warnt er vor den Gefahren, die von Migration und Multikulturalismus in Deutschland ausgingen. Seit Februar 2022 sind die Spannungen zwischen Russland und Deutschland in Bezug auf soziale Werte immer deutlicher geworden – ein Abbild der politischen Entwicklungen und unterschiedlichen Sichtweisen auf die Geschichte. Im Rahmen eines vom Europäischen Forschungsrat geförderten Projekts haben wir diese Spannungen in Interviews mit 20 Angehörigen der zweiten Generation von Migrant*innen mit Russlandhintergrund im Alter von 18 bis 35 Jahren untersucht. Diese jungen Menschen sind alle in Deutschland aufgewachsen und betonen gleichzeitig ihre familiäre Verbundenheit mit Russland. Ihre Positionen zu sozialen und politischen Fragen lassen sich jedoch selten in eine Schublade stecken und sind oft auch widersprüchlich.

Gemeinsame deutsche Identität, gemeinsame politische Konflikte

Nur ein kleiner Teil der Befragten bekundet ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland. In dieser Gruppe sind sowohl konservative als auch progressive politische und gesellschaftliche Ansichten vertreten, was die Polarisierung der deutschen Gesellschaft insgesamt widerspiegelt. Es gibt Personen mit einem multikulturellen Gesellschaftsverständnis, die sich für die Gleichstellung der Geschlechter und Minderheitenrechte einsetzen. Kristina (18) beispielsweise ist tolerant gegenüber den Traditionen und Überzeugungen aller Minderheiten.[1] Ihre Ansichten zu sozialen Fragen spiegeln jene Werte wider, die ihr im deutschen Bildungssystem vermittelt wurden. Daneben gibt es Personen mit konservativen politischen und sozialen Vorstellungen, die kritisieren, dass Minderheiten – insbesondere Muslim*innen – ihre Traditionen in Deutschland ungehindert ausüben können. Einige, wie Anton (31), fühlen sich dadurch bedroht: Er beharrt darauf, dass Deutschland „ein Land mit christlich-demokratischen Wurzeln“ sei, das von Außenstehenden überrannt werde. Befragte mit dieser Einstellung befürworten eine Politik, die auf Assimilation der Zugewanderten setzt, und befürchten, dass Menschen muslimischen Glaubens ihnen ihre Lebensweise aufzwingen könnten. Bella (34) ist aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln frustriert, dass „unsere eigenen Traditionen jetzt geschützt werden müssen“.

Entfremdung von der gesellschaftlichen Mitte

Ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu Russland bringt ebenfalls nur ein kleiner Teil der Befragten zum Ausdruck. Sie teilen eine konservative politische und soziale Einstellung. Mila, eine 32-Jährige, die sich als „Spätaussiedler“[2] aus Kasachstan beschreibt, orientiert sich stark an russischen Staatswerten, obwohl sie stolz auf ihre erfolgreiche Integration ist. Sie betont: „Ich habe die Verbindung zu meinem Heimatland nie vergessen und bin sogar stolz darauf, [...] einen ausländischen Hintergrund zu haben.“ Sie steht westlichen Genderdebatten sehr kritisch gegenüber und empfindet die deutsche Gesellschaft als zunehmend unsicher für Frauen – im Gegensatz zu der Sicherheit, die sie mit Kasachstan verbindet. Victor (36) verfällt während unseres Interviews in nationalistisches und faschistisches Vokabular. Er ist stark in alternative Medien verstrickt und lehnt deutsche „Mainstream“-Medien als voreingenommene „Lügenpresse“ ab.[3] Er behauptet außerdem, das „ganze Gender-Gaga“ sei eine Agenda der Mainstream-Medien und Deutschland führe einen „Kampf gegen die Familie“.

Eine derart starke russische Identität ist nicht nur bei Menschen mit Migrationshintergrund aus der heutigen Russischen Föderation zu beobachten, sondern auch bei Personen aus Ländern Osteuropas, Zentralasiens und des Südkaukasus. Was diese Gruppe verbindet, ist ein tiefgreifender sozialer Konservatismus und ein Misstrauen gegenüber westlichen demokratischen Institutionen, einschließlich der staatlichen und meisten privaten Medien. Hier stehen sie im Einklang mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Ansichten in Russland, in der konservative soziale Werte, beispielsweise in Bezug auf Homosexualität, in den letzten zehn Jahren auf dem Vormarsch sind.

Unterhalb und jenseits der nationalen Ebene

Die meisten der von uns Befragten verorten sich zwischen ihrem russischen Erbe und ihrer deutschen Sozialisation. Häufig identifizieren sie sich sowohl mit Russland als auch mit Deutschland, distanzieren sich jedoch von bestimmten kulturellen Elementen auf beiden Seiten. Viele beschreiben ihr Zugehörigkeitsgefühl als „gespalten“ oder „gemischt“. Andere, wie Anna (23), die tschetschenische Wurzeln hat, betonen die Bedeutung einer regionalen Identität und ihrer Religion. Anna vertritt scheinbar unvereinbare Ansichten: Sie ist konservativ in Bezug auf Geschlechterrollen, setzt sich aber gleichzeitig für individuelle Freiheiten und die Emanzipation der Frau ein. Dies ist typisch für Menschen mit hybriden Identitäten, die im Spannungsfeld zwischen progressiven und traditionellen Werten leben, die ihnen durch die Familie und die Schule oder auf andere Weise vermittelt wurden.

Eine Gruppe Befragter mit hohem Bildungsstand hingegen denkt jenseits von nationalen Grenzen. Nina (19) beispielsweise, deren Familie über die ganze Welt verstreut ist, navigiert bewusst zwischen den staatlichen Narrativen Deutschlands, der Ukraine und Russlands, um ihre eigene Position zu artikulieren. Sie ist sich der kulturellen und religiösen Spannungen innerhalb ihrer Familie bewusst und gleichzeitig stolz auf die vielen Perspektiven, mit denen sie dadurch konfrontiert ist. Sie kann zwar auf das in der Schule erworbene Wissen zurückgreifen, wenn sie sich mit diesen Konflikten auseinandersetzt, äußert aber auch den Wunsch, einen „Mittelweg“ zwischen den unterschiedlichen Perspektiven zu finden, beispielsweise bei Fragen von Geschlechterrollen und Minderheitenrechten.

Eine facettenreiche transnationale Welt

Die zweite Generation jeder Gemeinschaft von Migrant*innen hat viele Gesichter. In ihren sozialen und politischen Werten spiegeln die von uns Befragten diese Vielfalt wider. Während einige von ihnen eine Sehnsucht nach einer idealisierten Heimat zum Ausdruck bringen, haben andere ein klares Zugehörigkeitsgefühl zu und Engagement für Deutschland. Viele von ihnen betonen dass ihre Identität vielseitig geprägt ist, aber auch eine postnationale Sichtweise, die über traditionelle nationale Zugehörigkeiten hinausgeht. Diese Menschen sind ein Abbild unserer vernetzten Welt, in der Menschen und Ideen Grenzen überschreiten. Sie handeln ihre Zugehörigkeit inmitten konkurrierender Normen und Erwartungen in einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft aus. In diesem Umfeld haben Schulen die Aufgabe, ein Verständnis für die politische Geschichte Deutschlands zu vermitteln, aber auch ihre transnationalen Verflechtungen zu beleuchten. Dies kann dazu beitragen, die Erfahrungen und Erinnerungen von Familien mit Migrationsgeschichte zu integrieren, damit sie sich in Deutschland gehört und verstanden fühlen.


[1] Bei den Namen der Befragten handelt es sich um Pseudonyme.

[2] (Spät-)Aussiedler*innen sind Menschen deutscher Abstammung, die insbesondere aus der Sowjetunion oder Ländern wie Polen und Rumänien nach Deutschland gezogen sind. Sie haben in der Regel seit Generationen in diesen Ländern gelebt, stammen aber ursprünglich von deutschen Einwanderer*innen ab. Im weiteren Sinne umfasst der Begriff (Spät-)Aussiedler*innen auch Familienangehörige. Im Jahr 2020 lebten rund 2,5 Millionen (Spät-) Aussiedler*innen in Deutschland.

[3] Der Begriff „Lügenpresse“ wird in deutschen Medien häufig verwendet, um Verschwörungstheorien zu verbreiten.


Dr. Félix Krawatzek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZOiS, wo er den Forschungsschwerpunkt „Jugend und generationeller Wandel“ sowie das ERC-geförderte Projekt „Moving Russia(ns): Weitergabe von Erinnerungen zwischen den Generationen im Ausland und in der Heimat (MoveMeRU)“ leitet.

Sophia Winkler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS und promoviert zu sozialen Medien und der Identität junger Russ*innen im Ausland. Ihr Dissertationsprojekt ist Teil des vom ERC-finanzierten Projekts „Moving Russia(ns): Weitergabe von Erinnerungen zwischen den Generationen im Ausland und in der Heimat (MoveMeRU)“.