Die Resilienz der Ukraine: Vom Modewort zum nützlichen Konzept
Dass die Ukraine den fortdauernden Angriffen Russlands standhält, wird weithin gelobt und bewundert. Doch was diese Resilienz die Menschen kostet und mit welchen strukturellen Problemen das Land kämpft, wird dabei oftmals übersehen. Es bedarf einer neuen Perspektive darauf, was Resilienz eigentlich bedeutet.
Die Resilienz der Ukraine angesichts der umfassenden Aggression Russlands hat viele überrascht und wurde von vielen gelobt. Zugleich stößt der Begriff Resilienz auf Kritik, vor allem unter Wissenschaftler*innen aus der Ukraine. Einige argumentieren, dass die Fokussierung auf Resilienz die seit langem bestehenden strukturellen Probleme des Landes, die durch den Krieg noch verschärft wurden, ignoriert. Andere kritisieren die politische Verwendung des Begriffs: Sie sehen darin die Gefahr, dass Ukrainer*innen als Übermenschen dargestellt werden. Dieses Bild blende ihre Verletzlichkeit aus und trage dazu bei, die zögerliche Unterstützung der Ukraine zu rechtfertigen. Zudem lenkt dieser Umgang mit dem Begriff Resilienz vom genozidalen Charakter des Krieges ab: Die Ukrainer*innen haben im Grunde keine andere Wahl, als resilient zu sein. Sie müssen es sein, um zu überleben.
Die Kritikpunkte deuten darauf hin, dass Resilienz zu einem Modewort geworden ist, das mehr schadet als nützt. Es bedarf jedoch einer differenzierteren Perspektive. Resilienz beschreibt nicht den Zustand selbst, sondern die Bewältigung einer Krise. Wichtig ist, dass dabei ein klar definierter Kern eines Systems erhalten bleibt, auch wenn es sich unter Druck anpasst und verändert.
Die anfängliche Krise: ein Schock oder die Summe vieler?
Resilienz entsteht durch ein auslösendes Ereignis – eine Krise –, die die Schwachstellen eines Systems aufdeckt und dessen Funktionieren stört. In Analysen zur Ukraine galt die groß angelegte russische Invasion, die im Februar 2022 begann, zunächst als Schock. Vor diesem Hintergrund sahen Beobachter*innen die Fähigkeit der Ukraine, ihre staatlichen Strukturen aufrechtzuerhalten, als Ausdruck ihrer Resilienz.
Diese Sichtweise, die den Krieg als einen einzigen Schock betrachtet, verschleiert jedoch die Tatsache, dass das Land auf mehrere kriegsbedingte Erschütterungen reagieren musste. Für analytische wie für politische Zwecke ist es deshalb sinnvoller, die einzelnen Krisen zu untersuchen, die auf die anfängliche Invasion folgten: Vertreibung, institutionelle Störungen, wirtschaftlicher Zusammenbruch oder Schäden an der Infrastruktur. Analyst*innen können dann vergleichen, wie verschiedene Akteure auf diese Ereignisse reagiert haben. Daher ist es wichtig, Resilienz nicht als eine einzelne heroische Tat zu verstehen, sondern als eine Reihe von Prozessen, die sich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Bereichen mit unterschiedlicher Intensität entfalten.
Der Kern eines Systems
Der Kern eines Systems ist das zentrale Merkmal oder die zentrale Funktion, die es wert ist, erhalten zu bleiben, auch wenn sich alles andere ändert. Verändert sich der Kern, ändern sich auch der Zweck und Wert des gesamten Systems. Dann handelt es sich nicht mehr um Resilienz, sondern um Transformation oder Zusammenbruch.
Der Kern ist ein soziales Konstrukt: Gesellschaften, Organisationen, Kommunen und Gemeinschaften definieren, was sie in einer Krise erhalten oder schützen wollen. Dies umfasst zwei Ebenen: Die erste konzentriert sich auf funktionale Aspekte wie die Erhaltung von Institutionen, einer demokratischen Regierungsführung, Steuereinnahmen sowie Verwaltungs- und Sozialdienstleistungen. Die zweite Ebene umfasst Werte, Praktiken und Überzeugungen, etwa Freiheit und Selbstbestimmung sowie den Kampf für diese Prinzipien als Elemente der nationalen Identität.
Wenn eine Gesellschaft in einer Krise ihren Kern bewahrt, zeigt sich ihre Resilienz besonders deutlich. Tatsächlich hat die Ukraine verschiedene Strategien entwickelt, um Krisen zu bewältigen. Beispielsweise haben Kommunen, die mit einer Binnenflüchtlingskrise konfrontiert waren, Datenbanken mit Kontakten innerhalb der Gemeinde erstellt und Zentren für Vertriebene eröffnet. Auf diese Art und Weise konnten die Behörden trotz der Besetzung weiterhin öffentliche Dienstleistungen erbringen. Zwar änderte sich, wie sie diese Hilfe leisteten, doch die Hauptfunktion des Systems blieb bestehen: Menschen mit Dienstleistungen zu versorgen und sich dabei immer wieder anzupassen.
Klares Denken in Zeiten der Krise(n)
Betrachtet man Resilienz als das Ergebnis der Bewältigung einer Krise, die den Kern eines Systems schützt, ermöglicht dies einen differenzierteren Ansatz für den Begriff. So lassen sich auch die Kosten und Grenzen von Resilienz sichtbar machen.
Erstens ist der Blick auf das auslösende Ereignis wichtig: So werden auch die strukturellen Schwächen, die ein externes Ereignis zu einer Krise machen und einem Schock vorausgehen, erkannt und diskutiert.
Zweitens ermöglicht ein Fokus auf die Ressourcen, die den Kern aufrechterhalten, dass auch die menschlichen Kosten der Resilienz stärker in den Mittelpunkt rücken. So ist das Engagement der Bürger*innen für die gesellschaftliche Resilienz in der Ukraine zwar entscheidend, belastet jedoch zugleich die Mitarbeiter*innen der lokalen Behörden.
Sich auf die Kernfunktion eines Systems zu konzentrieren, hilft außerdem zu erkennen, wann sich der Kern nicht mehr ausreichend schützen lässt und das System dadurch zusammenbricht oder sich verändert. Selbst wenn beispielsweise die beschädigte Wasserversorgung in einem Kriegsgebiet wiederhergestellt wird, gibt es einen Punkt, an dem die russischen Angriffe den Schaden irreparabel machen; hier stößt die Resilienz der Infrastruktur an ihre Grenzen.
Schließlich ermöglicht diese Definition, Resilienz mit Fragen der Demokratie und Macht zu verknüpfen, ohne sie als soziales Phänomen zu untergraben. Analyst*innen können etwa fragen, wer den Kern definiert und wer ausgeschlossen wird, welche Gruppen in der Gesellschaft die Kosten der Resilienz mehr als andere tragen und wie diese Kosten gleichmäßiger verteilt werden können.
Resilienz ist weder eine gegebene Fähigkeit noch ein leeres Modewort. Wenn sie wie oben definiert wird, erhält der Begriff eine realistischere Definition. Klare Indikatoren helfen dabei, die Bedingungen und Grenzen der Resilienz zu definieren und Governance-Ziele für das Verhalten eines Systems in einer Krise festzulegen, die dann im Krisenfall gemessen werden können.
Dr. Oleksandra Keudel ist außerordentliche Professorin und Vizedekanin für Wissenschaft in der Abteilung für Sozialwissenschaften sowie Gründungsdirektorin des Zentrums für demokratische Resilienz an der Kyiv School of Economics (KSE). Seit September 2025 ist sie Fellow am Ukraine Research Network@ZOiS (UNET), das vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt gefördert wird.
Dr. Oksana Huss ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum Trustworthy Data Science and Security der Hochschulallianz Ruhr, Universität Duisburg-Essen.