ZOiS Spotlight 13/2025

Waffenstillstandslinien – Alltag, Sicherheit und Verhandlungsräume im Krieg

Ein Waffenstillstand im Krieg gegen die Ukraine wäre nicht nur eine militärische Pause: Er würde das Leben der Menschen an der Frontlinie unmittelbar beeinflussen – und Chancen für Friedensverhandlungen eröffnen. Ein nachhaltiger Frieden gelingt nur, wenn die Bedürfnisse der Menschen vor Ort berücksichtigt werden.

Folgen eines russischen Drohnenangriffs auf ein Wohngebäude während eines massiven Angriffs in Chernihiv, Ukraine, am 16. März 2025 IMAGO / NurPhoto

Immer wieder wird im Krieg zwischen Russland und der Ukraine über einen Waffenstillstand gesprochen. Es finden Treffen statt, Telefonate werden geführt. Sie gehören zu verschiedenen politischen Versuchen, die seit Kriegsbeginn darauf abzielen, den Krieg zumindest zu unterbrechen und den Weg für Friedensverhandlungen zu ebnen. Waffenstillstand und Waffenstillstandslinien resultieren aus dem Verlauf des Krieges, spiegeln die politische und militärische Ordnung des Krieges wider und werden entsprechend verhandelt. Doch wie sieht das Leben der Zivilbevölkerung während des Krieges und in einem Waffenstillstand aus?

Was ist ein Waffenstillstand?

Laut der Haager Landkriegsordnung von 1907 ist ein Waffenstillstand eine Unterbrechung der „Kriegsunternehmungen kraft eines wechselseitigen Übereinkommens der Kriegsparteien“. Ein Waffenstillstand kann umfassend gelten oder nur für bestimmte Truppeneinheiten zu Wasser, zu Lande oder in der Luft.

Die Verhandlungen führen überwiegend männliche Delegierte der jeweiligen Außenministerien, der Verteidigungsministerien, des Militärs sowie weitere ranghohe Regierungsbeamte. Diese Gespräche finden auf neutralem Boden statt – wie etwa 2014 und 2015 in Minsk (Belarus) oder im Juni 2025 in Istanbul (Türkei). Wichtige Rollen übernehmen dabei auch die Präsidenten der Krieg führenden Länder oder Regierungschefs von als neutral geltenden Ländern. Sie vermitteln zwischen den Parteien oder unterstützen die Gespräche auf andere Weise.

Verhandelt wird über Ort und Dauer eines Waffenstillstands, den Rückzug von Militär, die Anerkennung oder Abtretung von Territorien, Fragen der staatlichen Unabhängigkeit oder Sicherheitsgarantien. Die Ergebnisse werden in Memoranden und Agenden festgehalten – wie zuletzt etwa bei den Verhandlungen in Istanbul zwischen der Ukraine und Russland. Darin geht es um sehr grundsätzliche Konfliktursachen, die zum Krieg geführt haben.

Frontverlauf und Waffenstillstand

In dem seit 2014 andauernden Krieg in der Ostukraine legten die beiden Minsker Abkommen eine Waffenstillstandslinie entlang der Frontlinie zum Zeitpunkt der Verhandlungen fest. Diese blieb jedoch permanent umkämpft und veränderte sich häufig – das Gebiet war stark militarisiert und kontrolliert. Es wies zerstörte soziale und technische Infrastruktur, beschädigte Wohngebäude, vermintes Gelände, Umweltschäden sowie verlassene oder nur teilweise bewohnte Siedlungen auf. Die Linie durchschnitt dicht besiedelte Gebiete, die zuvor sozial, ökonomisch, infrastrukturell und kulturell vernetzt waren. Ein Waffenstillstand würde sich vermutlich am aktuellen Frontverlauf orientieren. Dieser verläuft im Süden durch die Regionen Saporischschja und Cherson, im Osten um die Regionen Donezk und Luhansk und im Nordosten durch die Regionen Sumy und Charkiw.

Raum und Gesellschaft im Krieg

Das Leben der Menschen nahe oder entlang der Front ist vom Krieg geprägt – unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialem Status. Neben der ständigen Lebensgefahr müssen die Menschen mit zahlreichen Herausforderungen umgehen. Für Kinder, Jugendliche, Studierende und Lehrkräfte ist Bildung schwer zugänglich. Der Unterricht wird oft durch Angriffe unterbrochen oder findet in Kellern, Bunkern oder online unter schwierigen Bedingungen statt. In den besetzten Gebieten kommt hinzu, dass Russland die Lehrpläne vorgibt und damit gezielt Einfluss auf die Identitätsbildung nimmt.

Erwachsenen mit Familien fehlt es an Einkommen und gesicherten Arbeitsplätzen – viele Betriebe sind zerstört oder an andere Orte verlegt worden. Zudem mangelt es an Lebensmitteln und grundlegender Versorgung. Die Menschen in Frontnähe sind daher permanent von Hilfslieferungen abhängig, die insbesondere in ländlichen Räumen schwieriger als in Städten erreichbar sind. Die medizinische Infrastruktur ist teilweise zerstört, das Personal geflüchtet und die Medikamentenversorgung eingeschränkt.

Viele Menschen im Kriegsgebiet vermissen und suchen Menschen, die auf der einen oder anderen Seite der Front oder in den besetzten oder annektierten Gebieten leben. Sie wollen zu ihren Kindern, Eltern oder Großeltern oder benötigen Unterlagen und Eigentum, das sich jenseits der Front befindet. Um dies zu ermöglichen, organisieren sich Frauen schon seit vielen Jahren in grenzübergreifenden, zivilgesellschaftlichen Initiativen. Sie halten Kontakt über die Front hinweg und gehen gemeinsam Probleme an. Daraus sind weitere lokale Initiativen entstanden, die sich mit den konkreten Folgen des Krieges beschäftigen und gemeinsam die Situation für die Menschen vor Ort verbessern.

Auch Strom- und Wasserversorgung sind gestört, was das Leben, Arbeiten und Versorgen in der Region zusätzlich erschwert. Infrastruktur, die über die Frontlinie hinweg die Menschen versorgt hat, ist zerstört und muss repariert werden, was ebenso besonderer Anstrengungen und Netzwerke über die Konfliktlinien hinweg bedarf. Gleichzeitig entstehen dadurch zeitweise Möglichkeiten, den Kontakt auf lokaler Ebene aufrechtzuerhalten.

Verhandlungen und menschliche Sicherheit

Bevölkerungen und Akteur*innen, die unmittelbar vom Krieg betroffen sind, entwickeln bemerkenswerte Strategien, um mit der Situation vor Ort umzugehen. Diese zeigen, welche Handlungsmacht und -möglichkeiten die Menschen trotz der schwierigen Umstände haben – aber auch, wo ihre Grenzen liegen.

Zu verstehen, wie Menschen ihr Leben unter Kriegsbedingungen miteinander und insbesondere über die Konfliktlinien hinweg bewältigen, ist auch relevant für Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen: Sie schaffen Bedingungen, Möglichkeiten und Kontexte für die konkrete Umsetzung eines Waffenstillstands, der weit entfernt am Verhandlungstisch vereinbart wird. Die Bedürfnisse und Erfahrungen der Menschen spielen zudem eine zentrale Rolle für einen nachhaltigen Frieden.


PD Dr. Sabine von Löwis ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin des Forschungsschwerpunkts Konfliktdynamiken und Grenzregionen" am ZOiS.

Noah Harris ist wissenschaftliche Hilfskraft im Forschungsschwerpunkt Konfliktdynamiken und Grenzregionen" am ZOiS.