Lehrer*innen unter russischer Besatzung: Bildung als Instrument des kulturellen Genozids
In den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine sind Klassenzimmer zu Schlachtfeldern geworden. Bildung wird als Waffe eingesetzt, um die ukrainische Identität auszulöschen und die Zukunft neu zu schreiben. Doch nicht alle Lehrer*innen halten sich an den aufgezwungenen russischen Unterrichtsplan.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist nicht nur durch die Eroberung von Territorien oder den Versuch, die Regierung des Landes zu stürzen, gekennzeichnet, sondern auch durch eine besondere Form der Gewalt, die in zwischenstaatlichen Konflikten oft fehlt: die erzwungene Transformation der Identität. Um die Annexion von Gebieten zu legitimieren, versucht Russland, die Bewohner*innen der besetzten Gebiete davon zu „überzeugen“, dass sie keine Ukrainer*innen sind, sondern Russ*innen, die endlich „befreit“ wurden. Wer sich widersetzt, dem drohen Durchsuchungen, Verhöre, Erpressung, Deportation, Entführung, Inhaftierung, Folter und sogar die Hinrichtung.
Für Raphael Lemkin, der Jurist, der 1944 den Begriff Genozid prägte, umfasst dieser den „koordinierten Plan verschiedener Aktionen, der auf die Zerstörung essentieller Grundlagen des Lebens einer Bevölkerungsgruppe gerichtet ist mit dem Ziel, die Gruppe zu vernichten“. Ihm zufolge können die Kontrolle über Schulen, Sprache und Bildungspolitik als Mittel zur Durchführung eines „Genozids im kulturellen Bereich“ eingesetzt werden, was später als „kultureller Genozid“ bekannt wurde. In diesem Sinne ist Bildung zu einem der wichtigsten Instrumente des Kremls für den kulturellen Genozid in der Ukraine geworden, wobei Kinder und Jugendliche ein besonderes Ziel der Russifizierung sind. Dieser Russifizierungsprozess muss in einem größeren Zusammenhang gesehen werden: Der russische Präsident Wladimir Putin und andere russische Führungspersönlichkeiten haben wiederholt die Legitimität der Ukraine als Staat und Nation geleugnet. Tausende Schulen in der ganzen Ukraine wurden durch russische Bombenangriffe beschädigt und Hunderte zerstört. Viele Universitäten erlitten ein ähnliches Schicksal. Wissenschaftler*innen verwenden die Begriffe Eduzid und Scholastizid – andere Formen des Genozids –, um die weit verbreitete gezielte Zerstörung von Bildungseinrichtungen und Schulen in Kriegsgebieten zu beschreiben.
Zwang und Kooptation
Nach den russischen Invasionen von 2014 und 2022 in die Ukraine versuchten die Besatzungsbehörden, lokale Schulleiter*innen und Lehrer*innen dazu zu bewegen, Schulen und Universitäten mit russischem Lehrplan wieder zu öffnen. Von Anfang an investierte Russland erhebliche finanzielle und personelle Ressourcen in diese Umerziehungskampagnen, wobei Zwangsmaßnahmen und Kooptationsstrategien kombiniert wurden. Ukrainischsprachige Materialien wurden gezielt vernichtet, und obwohl die Verwendung der ukrainischen Sprache nicht offiziell verboten wurde, wurde sie systematisch stigmatisiert und von den russischen Streitkräften als Zeichen des Nationalismus interpretiert. Offizielle Medienkanäle sendeten Bilder von Kindern in den besetzten Gebieten, die die russische Hymne sangen und an patriotischen russischen Veranstaltungen teilnahmen. Die Deportation ukrainischer Kinder nach Russland war ebenfalls Teil dieser Politik des kulturellen Genozids. In diesem Zusammenhang standen Bildungsfachleute vor einem Dilemma: entweder sich den russischen Anweisungen zu widersetzen und schwere Strafen zu riskieren oder sich zu fügen und von der Ukraine als Verräter oder Kollaborateur gebrandmarkt zu werden.
Im Rahmen meiner Postdoc-Forschung habe ich Feldforschung in sechs Regionen der Ukraine, darunter auch ehemals besetzte Gebiete, durchgeführt. Dabei habe ich 55 ausführliche Interviews (42 persönlich und 13 online) geführt, hauptsächlich mit Personen, die die Besatzung erlebt hatten, aber nun in von der Ukraine kontrollierten Gebieten leben. Die Interviews wurden zwischen Mitte 2024 und April 2025 geführt. In einer ersten gemeinsamen Studie mit Gabriela Lotta vom brasilianischen Forschungsinstitut Fundação Getulio Vargas und Mykhailo Honchar von der Kherson Academy of Continuing Education wurden drei Hauptmuster identifiziert, nach denen Bildungsfachleute in den Monaten unmittelbar nach der umfassenden Invasion 2022 reagiert haben: lokaler Widerstand, Kollaboration und Anpassung aus der Ferne.
Lokaler Widerstand
Nur wenige Schulleiter*innen und Lehrer*innen waren bereit, unter dem von Russland auferlegten Lehrplan mitzuarbeiten. Selbst russische Propagandawebseiten bestätigen die geringe Kooperationsbereitschaft. In den ersten Monaten der Besatzung nahm der Widerstand verschiedene Formen an. In größeren Städten unterrichteten viele weiterhin online und vermieden den Kontakt zu den Besatzungsbehörden. Ukrainische Gehälter und Zulagen waren weiterhin verfügbar, jedoch nicht an allen Orten und in allen Einrichtungen. In vielen Dörfern war Online-Unterricht aufgrund anhaltender Stromausfälle und fehlender Internetverbindungen unmöglich. Viele Pädagog*innen versteckten Schulausrüstung und Dokumente, um Plünderungen zu verhindern, und löschten Informationen über Eltern, die seit 2014 am Krieg im Donbas teilgenommen hatten.
Der anfänglich „freundliche“ Ton der russischen Streitkräfte – mit Angeboten hoher Gehälter und Prämien – wich allmählich Drohungen, Einschüchterungen und Zwang. Zwei Schulleiter aus der Region Cherson berichteten, dass Kollaborateure sie in Begleitung maskierter, bewaffneter Beamter aufsuchten. Nachdem sie sich geweigert hatten, zu kooperieren, wurden beide in den sogenannten pidval (Keller) gebracht, eine improvisierte Haftanstalt, die in einem unbewohnbaren Zustand ist. Dort verbrachten sie mehrere Tage und wurden verhört und bedroht, bevor sie freigelassen wurden. Beide wurden beschuldigt, auf „russischem Territorium“ einen „ausländischen Lehrplan“ unterrichtet zu haben, ein „Verbrechen“, für das ihnen angeblich mehrere Jahre Gefängnis drohen. Bewaffnete Männer beschlagnahmten ihre Schulgebäude und hinderten sie am Betreten. Schließlich flohen sie aus der besetzten Zone. Eine weitere Schulleiterin aus der Region Mykolajiw berichtete, wie ihr Haus und ihre elektronischen Geräte wiederholt von bewaffneten Männern durchsucht wurden. Und auch ein Universitätsprofessor aus der Region Cherson beschrieb, wie er in einen pidval gebracht und dort verhört und gefoltert wurde.
Kollaboration
Aus den Interviews geht hervor, dass nur eine kleine Anzahl von Schulleiter*innen und Lehrer*innen mit den russischen Besatzern kollaborierte. Ihre Motivation bestand teilweise aus der Aussicht auf eine berufliche Beförderung – viele von ihnen hatten zuvor keine Verwaltungserfahrung und wurden in hohe Positionen befördert – sowie auf höhere Löhne und Prämien. Auch die Angst vor den Folgen einer Verweigerung, die Überzeugung, dass die Ukraine das Gebiet nicht zurückerobern werde oder die ideologische Übereinstimmung mit dem Kreml spielten bei dieser Entscheidung eine Rolle.
Die moralische Zweiteilung in „Kollaboration versus Widerstand“ verschleiert oft die komplexe Dynamik der Besatzung. Eine Schulleiterin aus der Region Charkiw erinnerte sich, dass ihr bei Treffen mit bewaffneten Offizieren gesagt wurde, dass Lehrer*innen aus Russland herbeigeholt würden, wenn das lokale Personal sich weigere zu arbeiten. Tatsächlich wurden einige russische Lehrer*innen in die besetzten Gebiete entsandt, wo ihnen höhere Gehälter und Häuser von vertriebenen Ukrainer*innen angeboten wurden, die beschlagnahmt worden waren. Um diesen moralischen Komplexitäten Rechnung zu tragen, unterscheiden wir zwischen „aktiver“ Kollaboration (motiviert durch materielle Anreize oder ideologische Überzeugung) und „passiver“ Kollaboration (motiviert durch Zwang oder Überlebensstrategien).
Anpassung an den Fernunterricht
Viele Schulen in den besetzten Gebieten werden weiterhin online betrieben. Schulleiter*innen und Lehrer*innen halten Unterricht aus ukrainisch kontrollierten Gebieten, während ihre Schüler*innen über die ganze Ukraine und im Ausland verstreut sind. Tausende bleiben in den besetzten Gebieten und besuchen diesen Online-Unterricht heimlich. Angesichts der Allgegenwart der russischen Geheimdienste sind sie und ihre Familien dadurch besonders gefährdet. Viele Kinder besuchen auch russische Schulen. In den ersten Monaten der Besatzung machte Russland den Zugang zu finanzieller und humanitärer Hilfe vom Schulbesuch abhängig – Eltern, die sich weigerten, wurden sogar mit dem Entzug des Sorgerechts bedroht. Einige Universitäten aus den besetzten Gebieten sind in von der Ukraine kontrollierte Gebiete umgezogen. Ich habe die Staatliche Universität Cherson, die jetzt in Iwano-Frankiwsk liegt, und die Universität Mariupol, die jetzt in Kyjiw ansässig ist, besucht. Der Unterricht findet größtenteils online statt, einige akademische Aktivitäten werden jedoch persönlich abgehalten.
Der gezielte Einsatz von Bildung als Instrument zur Auslöschung der Identität und zum kulturellen Genozid folgt einem Muster imperialer Herrschaft, dem die Ukraine seit Jahrhunderten ausgesetzt ist. Im aktuellen Krieg sind Schulen und Universitäten nicht nur Ziele der Unterdrückung, sondern auch wichtige Schauplätze des Widerstands, an denen täglich um Erinnerung, Identität und nationale Kontinuität gekämpft wird. Die Widerstandsfähigkeit von Bildungsfachleuten und Studierenden stellt die Logik der Besatzung in Frage und bekräftigt Bildung als Frontlinie des Widerstands gegen ein autoritäres Regime, das nicht nur Land erobern, sondern auch Zugehörigkeit neu definieren und die Zukunft einer Nation auslöschen will.
Vicente Ferraro ist Postdoktorand an der Fundação Getulio Vargas in Brasilien. Von Februar bis April 2025 war er Gastwissenschaftler am ZOiS.