Dezentralisierung in der Ukraine unter Kriegsrecht: Ein Balanceakt
Die Dezentralisierungsreform der Ukraine war für die Resilienz des Landes in Kriegszeiten von großer Bedeutung. Das Kriegsrecht hat zwar die Errungenschaften der Dezentralisierung nicht zunichte gemacht, birgt jedoch Risiken – insbesondere für die lokale Autonomie und die Selbstvestimmung beim Wiederaufbau.

Die richtungsweisende Dezentralisierungsreform der Ukraine wird oft als eine der erfolgreichsten Transformationen des Landes angesehen. Sie wurde nach der Revolution der Würde im Jahr 2014 eingeführt und verlagerte Macht und Ressourcen von der Zentralregierung auf die lokalen Selbstverwaltungsgemeinden, die Hromadas. Der Reform wird zugeschrieben, dass sie die regionale Entwicklung fördert, die demokratische Rechenschaftspflicht stärkt und ein widerstandsfähigeres Regierungssystem schafft. All dies erwies sich als entscheidend, als Russland am 24. Februar 2022 seine großangelegte Invasion startete. Doch unter dem seither geltenden Kriegsrecht agieren die lokalen Behörden in einem Notstandsregime. Es stellt sich also die Frage, wie sich das dezentrale System der Ukraine an die Herausforderungen in Kriegszeiten angepasst hat und welche Auswirkungen das Kriegsrechts auf den Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg hat.
Kriegsrecht: ein Rückschlag für die Dezentralisierung?
Das Kriegsrecht hat das Regierungswesen der Ukraine grundlegend verändert. Neue Regelungen haben den Militärbehörden weitreichende Befugnisse gewährt und ihnen vorübergehend die Koordinierung der lokalen und nationalen Krisenbewältigung übertragen. Diese Schritte waren zwar notwendig, verwischten jedoch die traditionellen Grenzen zwischen ziviler Selbstverwaltung und staatlichen Sicherheitsinstitutionen. In 14 Prozent aller Hromadas, vor allem in den Front- und befreiten Regionen im Osten, wurden Militärverwaltungen eingerichtet, die Kompetenzen übernahmen, die normalerweise den gewählten Gemeinderäten vorbehalten sind. Sie wurden auch in einigen wenigen nicht an der Front gelegenen, aber strategisch wichtigen Hromadas eingeführt, darunter die umkämpften Städte Sumy und Tschernihiw oder Gemeinden mit Kernkraftwerken. Diese Regelungen sollten die Dezentralisierung nicht dauerhaft zurücknehmen, sondern waren als Reaktion auf die akute Notwendigkeit gedacht, in Kriegszeiten schnelle Entscheidungen treffen und einheitliche Anordnungen erlassen zu müssen. Dennoch hat sie de jure zwei unterschiedliche Regierungsszenarien in der Ukraine hervorgebracht: eines, in dem ein vollständig zentralisierter Staatsapparat in den Hromadas tätig ist, in denen lokale Selbstverwaltungsorgane durch Militärverwaltungen ersetzt wurden, und ein anderes, in dem lokale Selbstverwaltungsorgane bestehen bleiben, sich jedoch umfassend mit Bezirks- und Regionalbehörden abstimmen müssen.
Vor-Ort-Interviews in den vom Krieg betroffenen Regionen Tschernihiw, Cherson, Charkiw und Saporischschja zeigen jedoch, dass die lokalen Verwaltungen und Dienstleistungen weiterhin funktionieren. Dies ist besonders wichtig in Gemeinden, in denen gewählte Räte nicht mehr effektiv arbeiten können. In einigen an der Front gelegenen und besetzten Hromadas sind Ratsmitglieder geflohen, getötet worden oder haben in einigen Fällen mit den russischen Streitkräften kollaboriert. Infolgedessen fehlt vielen Räten die Beschlussfähigkeit, während Neuwahlen aus Sicherheitsgründen unmöglich sind. In diesen Situationen sind die Militärverwaltungen zur institutionellen Lebensader der lokalen Verwaltung geworden.
Im Falle besetzter Hromadas operieren die Militärverwaltungen aus der Ferne – oft von nahe gelegenen Oblast-Zentren oder sogar von Kyjiw aus. Zu ihren Kernaufgaben gehört es, Binnenvertriebene aus den betreffenden Hromadas zu unterstützen, Evakuierungsrouten einzurichten, Informationen zu sammeln und die Verwaltung für die Zeit nach der Befreiung vorzubereiten. Ihre Möglichkeiten, direkte lokale Dienstleistungen zu erbringen, sind indes äußerst begrenzt.
Militärisch im Namen, zivil im Wesen
Die Militärverwaltungen stellen eine Erweiterung der Exekutive der Zentralregierung dar. Das Gleiche gilt für ihre Führung: Die Leiter*innen der lokalen Militärverwaltungen werden per Präsidialdekret ernannt und sind in den meisten Fällen gar keine Militärangehörigen. Obwohl sie geschaffen wurden, um den Sicherheitsanforderungen in Kriegszeiten gerecht zu werden, bleiben die Militärverwaltungen somit im Wesentlichen ziviler Natur – und sind weitgehend nur dem Namen nach militärisch.
Im Gegensatz zu Hromadas mit gewählten Räten wurden in den unter Militärverwaltung stehenden Gemeinden formelle demokratische Prozesse wie Gemeinderatssitzungen ausgesetzt. Die Entscheidungsgewalt liegt in den Händen der Person, die der Militärverwaltung vorsteht.
Gleichzeitig genießen viele dieser Leiter*innen eine gewisse lokale Legitimität. Etwa jede*r dritte unter ihnen war zuvor Bürgermeister*in derselben Gemeinde. Diese Kontinuität war entscheidend für die Aufrechterhaltung des Vertrauens der lokalen Bevölkerung.
Risiken für die lokale Integrität und Eigenverantwortung
Dennoch birgt der derzeitige Kriegsrahmen zwei große Risiken. Erstens lässt die rechtliche Unklarheit hinsichtlich der Umstände, unter denen Militärverwaltungen eingerichtet werden können, Raum für den Missbrauch politischer Macht. Zwar haben unsere Feldforschungen keine konkreten Fälle eines solchen Missbrauchs ausgewiesen, doch könnte dieser Spielraum die demokratische Rechenschaftspflicht untergraben, insbesondere wenn der Ausnahmezustand verlängert wird.
Zweitens scheint in dem sich abzeichnenden Wiederaufbaurahmen der Ukraine die Kontrolle über die finanziellen Mittel zum Wiederaufbau zunehmend zentralisiert zu werden. Eine zentrale Verwaltung erleichtert zwar die Koordination mit internationalen Gebern, schwächt aber auch das Gefühl der Selbstbestimmung der Hromadas beim Wiederaufbau. Wenn lokale Prioritäten zugunsten eines zentralisierten Zuteilungssystems zurückgestellt werden, könnte es für die Gemeinden schwierig werden, sowohl die physische Infrastruktur als auch das Vertrauen wiederherzustellen, das die Grundlage für Resilienz bildet.
Warum der Wiederaufbau im Zeichen der Dezentralisierung stehen sollte
Während der Krieg andauert, hängt die Zukunft der Dezentralisierung in der Ukraine davon ab, wie gut das Land militärische Notwendigkeiten mit demokratischen Prinzipien in Einklang bringt. Der Wiederaufbauprozess nach dem Krieg wird ein entscheidender Test sein. Wird er zu stark zentralisiert, könnte dies die lokale Legitimität untergraben und hart erkämpfte Reformen rückgängig machen. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Roger Myerson wies kürzlich auf einer Konferenz auf diese Gefahr hin. Er betonte, dass die Dezentralisierungsreformen der Ukraine den Wiederaufbauprozess leiten müssen. Für Myerson ist die Stärkung der Hromadas nicht nur deshalb von entscheidender Bedeutung, weil lokale Führungskräfte an vorderster Front bei der Verteidigung und Hilfe stehen. Darüber hinaus erhöhe Dezentralisierung die Transparenz, fördere den Wettbewerb und die Innovation zwischen den Gemeinden und stärke die demokratische Widerstandsfähigkeit. Er warnte davor, dass großangelegte Geberhilfen, wenn sie in erster Linie über zentrale Behörden geleitet werden, unbeabsichtigt die Zentralisierung verstärken könnten. Stattdessen sollten Geber die lokalen Regierungen aktiv in die Projektplanung und -überwachung einbeziehen, regionale Büros zur Unterstützung der Hromadas einrichten und einen erheblichen Teil der internationalen Mittel – mindestens 25 Prozent – auf lokaler Ebene bereitstellen. Solche Mechanismen würden laut Myerson einen schnelleren, transparenteren und verantwortungsvolleren Wiederaufbau gewährleisten.
Eine Rückkehr zu einer starken lokalen Autonomie könnte sicherstellen, dass die Dezentralisierung ein Eckpfeiler der demokratischen Entwicklung der Ukraine bleibt. Im Moment geht es also nicht nur ums Überleben im Krieg. Es geht auch darum, die institutionelle DNA der Dezentralisierungsreform der Ukraine zu bewahren, die sowohl für die Widerstandsfähigkeit als auch für die demokratische Konsolidierung von entscheidender Bedeutung war.
Die Forschung, die diesem Artikel zugrundeliegt, wurde von der Stiftung für baltische und osteuropäische Studien (FBEES) unter der Fördernummer 23-GP-009 unterstützt.
Andrii Darkovich ist Doktorand der Politikwissenschaft an der Kyiv School of Economics (KSE) in der Ukraine und Forscher am KSE Institute und an der KSE University.
Maryna Rabinovych ist Assistenzprofessorin an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Kyiv School of Economics (KSE) in der Ukraine und Postdoktorandin am Institut für Sozialwissenschaften der Arctic University of Norway (UiT). Seit Oktober 2024 ist sie außerdem Stipendiatin des Ukraine Research Network@ZOiS, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird.