ZOiS Spotlight 9/2025

9. Mai: Eine Parade umstrittener Erinnerung

Von Hakob Matevosyan 07.05.2025

Europatag oder Tag des Sieges: In Estland, einem Land mit beträchtlichem russischsprachigem Bevölkerungsanteil, ist das Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs mehr denn je eine Frage der politischen Haltung. Doch vor allem unter Jüngeren gibt es erste Zeichen einer Annäherung, wie eine Umfrage des ZOiS zeigt.

Bei den Feierlichkeiten zum 9. Mai in Tallinn, Estland, wurden 2022 zum ersten Mal russische Symbole und Kleidung der Sowjetarmee verboten. IMAGO / Scanpix

Nur wenige Daten im europäischen Kalender haben eine derart große historische Bedeutung und lösen so viele politische Kontroversen aus wie der 9. Mai. In der EU ist dieser Tag der Europatag, ein Gedenktag für Frieden und Einheit, der auf die Schuman-Erklärung von 1950 zurückgeht. In Russland und weiten Teilen des postsowjetischen Raums ist der 9. Mai jedoch der Tag des Sieges, an dem der Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland im Jahr 1945 gefeiert wird. Der Stellenwert dieses Tages ist nach wie vor groß: Eine kürzlich in Russland durchgeführte Umfrage ergab, dass 67 Prozent der Bevölkerung den 9. Mai als die größte historische Errungenschaft des Landes betrachten. Und 98 Prozent sind der Meinung, dass die Erinnerung an den sogenannten Großen Vaterländischen Krieg bewahrt werden muss.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat diese gegensätzlichen Erinnerungskonzepte noch verstärkt. In Moskau ist der 9. Mai heute eine sorgfältig choreografierte Bekräftigung imperialer Ansprüche – verpackt als antifaschistischer Heroismus und instrumentalisiert, um die gegenwärtige Aggression zu legitimieren. Demgegenüber fehlt der Erzählung der EU von demokratischem Frieden eine vergleichbare emotionale und politische Zugkraft.

In Estland, einem Mitglied der EU und der NATO mit einem beträchtlichen russischsprachigen Bevölkerungsanteil, offenbart der 9. Mai konkurrierende Loyalitäten. Für viele russischsprachige Est*innen bleibt er ein Tag des familiären Stolzes, geprägt von Geschichten über Opfer und Befreiung. Für Est*innen weckt der 9. Mai dagegen schmerzhafte Assoziationen mit der sowjetischen Besatzung, Deportationen und der Auslöschung der Staatlichkeit. Die Kluft zwischen den Gedenkpraktiken ist tief: Die Erinnerung ist hier nicht nur persönlich, sondern auch ein Bekenntnis zur politischen Orientierung.

Die politische Führung Estlands stellt die Sowjetnostalgie zunehmend als unvereinbar mit demokratischen Grundsätzen dar. Die ehemalige estnische Ministerpräsidentin und derzeitige EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas hat davor gewarnt, dass eine Romantisierung der Roten Armee die Gefahr bergen könnte, die aktuelle Aggression Russlands zu legitimieren. Vor dem Hintergrund des andauernden Krieges gegen die Ukraine sind die Gedenkpraktiken in Estland Ausdruck eines umfassenderen Kampfes um die moralischen Grenzen der Zugehörigkeit. In einem Land, in dem sozialer Zusammenhalt lange Zeit bedeutete, die Interessen der estnisch- und russischsprachigen Bevölkerung in Einklang zu bringen, hat die russische Invasion in der Ukraine die Spaltungen vertieft. Für viele Est*innen ist die Feier des 9. Mai als einen Tag der Befreiung nun mit einem Aggressorstaat verbunden.

Kann es Raum für eine gemeinsame staatsbürgerliche Identität geben, wenn das Gedenken selbst zu einem Test der Loyalität geworden ist? Oder hat der Schatten des 9. Mai den sozialen Zusammenhalt grundlegend in Frage gestellt?

Streit um Erinnerung, Hoffnung auf Zusammenhalt

Im Rahmen des vom Europäischen Forschungsrat (ERC) finanzierten Projekts MoveMeRU und in Zusammenarbeit mit dem Institute for Baltic Studies in Estland befragte das ZOiS zwischen Oktober 2024 und Januar 2025 über 1.500 Einwohner*innen Estlands, darunter viele russischsprachige. Ziel war es, nachzuverfolgen, wie der 9. Mai über ethnisch-sprachliche und generationsübergreifende Grenzen hinweg erinnert wird.

Dabei zeigte sich eine auffällige Gemeinsamkeit: Das Gedenken an die Opfer des Krieges war für alle Gruppen wichtig. Auf die Frage, woran man sich am 9. Mai erinnern sollte, wählten rund 20 Prozent der estnischsprachigen Befragten und über ein Viertel derjenigen mit russischem Hintergrund diese Option (Abbildung 1). In einem polarisierten Erinnerungsfeld bietet diese Anerkennung des Verlusts eine fragile, aber bedeutende Brücke zwischen den Bürger*innen.

Dennoch bestehen weiterhin tiefe Gräben. Unter den estnischsprachigen Befragten, insbesondere der jüngeren Generation, steht der 9. Mai zunehmend für den Europatag: 27 Prozent der jüngeren Est*innen und ein ähnlicher Anteil ihrer Eltern verbanden diesen Tag mit der europäischen Integration. Diese Sichtweise fand jedoch bei den Befragten mit russischem Hintergrund wenig Anklang. Nur ein sehr kleiner Teil der älteren russischsprachigen Befragten und nur 12 Prozent der jüngeren verbanden diesen Tag mit dem europäischen Projekt. Ein russischer Hintergrund korreliert also stark mit einer geringeren Bereitschaft, die EU-Erzählung anzunehmen.

Für ältere Befragte mit russischem Hintergrund war die vorherrschende Interpretation des 9. Mai die sowjetische Erzählung vom Sieg über Nazi-Deutschland. Diese Sichtweise verliert jedoch allmählich an Boden. Unter der jüngeren Generation gaben nur 8 Prozent dieser Sichtweise noch Vorrang, was auf einen Generationswandel weg von den überlieferten Gedenkmustern hindeutet. Auch ein höheres Bildungs- und Einkommensniveau war mit einer geringeren Verbundenheit mit der sowjetischen Interpretation verbunden.

Die schärfste Trennlinie verläuft zwischen denen, die den 9. Mai als Tag der Befreiung interpretieren, und denen, die ihn als Beginn der sowjetischen Besatzung sehen. Während ein bemerkenswerter Anteil der estnischsprachigen Befragten die letztere Ansicht vertrat, teilte nur eine sehr kleine Minderheit der Befragten mit russischem Hintergrund – unabhängig vom Alter – diese Perspektive. Diese Wahrnehmungen sind höchstwahrscheinlich durch die Weitergabe von Erinnerungen über Generationen hinweg, die politische Sozialisation und den Zugang zu Bildung geprägt.

Dennoch verändert sich die Erinnerungslandschaft. Unter den jüngeren Befragten mit russischem Hintergrund identifizierten 12 Prozent den 9. Mai mit dem Europatag und 9 Prozent mit dem Beginn der Besatzung. Diese Zahlen mögen gering erscheinen, aber sie markieren einen bedeutenden Bruch mit dem überlieferten Erinnerungsmuster. Was einst eine starre Herangehensweise an das Gedenken war, wird nun durchlässiger und offen für vielfältige Interpretationen. Die Konturen des kollektiven Gedächtnisses werden neu gezeichnet.

Erinnerung als zivile Orientierung

Erinnerung ist nicht nur ein Spiegelbild der Vergangenheit, sondern prägt auch die politische Zugehörigkeit. Ob jemand den 9. Mai als Moment der Befreiung, der Besatzung oder der Trauer betrachtet, prägt seine Beziehung zur europäischen Integration.

Insofern fungiert der 9. Mai als zivilgesellschaftlicher Barometer. Er testet, inwieweit die europäische Integration bei der vielfältigen Bevölkerung Estlands Anklang findet. Gedenkkonflikte lassen sich jedoch nicht allein durch politische Bildung lösen. Die emotionale Kraft von Familiengeschichten und die performative Kraft öffentlicher Rituale sind tief verwurzelt. Die Aufgabe besteht nicht darin, unterschiedliche Vergangenheiten auszulöschen, sondern eine Bürgerkultur aufzubauen, in der sie nebeneinander bestehen können, verankert in demokratischen Werten. Meinungsverschiedenheiten dürfen den Zusammenhalt nicht zerstören, sondern müssen Teil dessen werden, was ihn zusammenhält.

Neukalibrierung der Erinnerung

Mit dem Herannahen des 80. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs bleibt die Erinnerungspolitik weiterhin hochbrisant, insbesondere in Staaten mit einem hohen Anteil russischsprachiger Bevölkerung. In Estland sind die Regulierung von Gedenkfeiern mit Bezug zur Sowjetzeit und die Einschränkung entsprechender Symbole zu Mitteln geworden, um gesellschaftliche Grenzen zu ziehen. Die Erinnerungspolitik wird jedoch nicht von oben diktiert, sondern verändert sich durch alltägliche Praktiken.

Die Erinnerungspolitik des 9. Mai nimmt nicht in einer pauschalen Spaltung Gestalt an, sondern in nationalen und lokalen Verschiebungen. Die Ergebnisse der Umfrage deuten darauf hin, dass zwar tiefe Spaltungen bestehen bleiben, aber auch fragile Gemeinsamkeiten bestehen, die eine potenzielle Brücke zwischen den Bürger*innen bilden können. Gleichzeitig zeigten russischsprachige Befragte der zweiten Generation Anzeichen dafür, dass sie sich von den überlieferten sowjetischen Narrativen lösen und sich vorsichtig dem europäischen Projekt annähern. Könnte diese sich abzeichnende Offenheit unter jüngeren russischsprachigen Menschen auf eine Zukunft hindeuten, in der umstrittene Erinnerungen in einem gemeinsamen zivilgesellschaftlichen Rahmen koexistieren?


Dr. Hakob Matevosyan ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter im ERC-geförderten Projekt Moving Russia(ns): Intergenerational Transmission of Memories Abroad and at Home (MoveMeRU) am ZOiS.