ZOiS Spotlight 21/2025

Zwischen den Welten: Belarusische Lyrik im Exil

Von Nina Frieß 19.11.2025

Seit 2020 haben infolge der Repressionen des autoritären belarusischen Regimes fast alle unabhängigen Kulturschaffenden das Land verlassen. Im Exil engagieren sich viele von ihnen für ein freies Belarus. Die Poesie wird dabei zu einer wirkmächtigen Ausdrucksform, die dokumentiert, Widerstand leistet und tröstet.

Ein collagiertes Bild aus mehreren Fotografien zeigt einen Mann in einer steinigen Berglandschaft, der ein Netz webt, in dessen Mitte ein Fluss verläuft.
Absurde Collage von Julia Cimafiejeva aus ihrem Collagenband Ich zerschneide die Geschichte. Lyrik und Collagen. Julia Cimafiejeva / Ich zerschneide die Geschichte_editionfrölich

In der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1937 ermordete die sowjetische Geheimpolizei in Minsk 132 Persönlichkeiten der belarusischen Elite, darunter zahlreiche Kulturschaffende. Heute gedenken in der „Nacht der erschossenen Dichter“ Menschen weltweit der Opfer des sowjetischen Terrors. In Belarus hat das zu Sowjetzeiten verschwiegene Verbrechen indes keinen Platz in der offiziellen Erinnerungskultur gefunden. Seit der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen von 2020 ist auch kein zivilgesellschaftlich organisiertes Gedenken mehr möglich. Umso stärker verlagert sich das Erinnern ins Exil. In Berlin fand die diesjährige Gedenkveranstaltung am Literarischen Colloquium erneut unter dem Titel „Nacht der unerschossenen Gedichte“ statt, ein Verweis darauf, dass literarische Texte ihre Schöpfer*innen überdauern können. Die Liste der Teilnehmer*innen liest sich wie das who is who der unabhängigen belarusischen Gegenwartskultur.

Poesie und Protest

Lyrik und Musik – gewissermaßen vertonte Dichtung – hatten bereits im Vorfeld der belarusischen Präsidentschaftswahlen 2020 eine wichtige Rolle gespielt. Auf zahlreichen Kundgebungen der Gegenkandidat*innen Aljaksandr Lukaschenkas, der Belarus seit 1994 autoritär regiert, waren Musiker*innen aufgetreten. Sie hatten für ein anderes, ein demokratisches Belarus gesungen und der unvollendeten belarusischen Revolution einen Soundtrack gegeben. Nach den manipulierten Wahlen fanden Protestlesungen und -konzerte in Hinterhöfen statt. Dort kamen auf einmal Nachbar*innen miteinander ins Gespräch, die sich zuvor kaum gegrüßt hatten. Seinen deutlichsten Ausdruck fand dieses neue belarusische Wir in den landesweiten Massendemonstrationen, die Lukaschenka brutal niederschlagen ließ. Infolge der – bis heute andauernden – Repressionen verließen Schätzungen zufolge zwischen 500.000 und 600.000 Belarus*innen ihre Heimat, darunter fast die komplette unabhängige Kulturelite des Landes.

Nach 2020 verschwanden zuvor vorhandene Freiräume für unabhängige Kultur in Belarus. Preisgekrönte Romane wie Alhierd Bacharevičs „Europas Hunde“ und Sascha Filipenkos im Frühjahr 2026 in deutscher Übersetzung erscheinender Roman „Die Elefanten“ wurden als extremistisch eingestuft, andere Werke auf die Liste der Druckerzeugnisse gesetzt, „die Informationen und/oder Materialien enthalten, deren Verbreitung den nationalen Interessen der Republik Belarus schaden könnte“.[1] Der Verkauf und Besitz solcher Titel sind strafbar. Umso bedeutender sind die Texte, die außerhalb des Landes erscheinen.[2] Darunter finden sich viele Gedichtbände, die zum Teil im belarusischen (seltener russischen) Original in Exilverlagen wie hochroth Minsk oder Skaryna Press publiziert werden, zum Teil in Übersetzung oder bilingualen Ausgaben in anderen Verlagshäusern. Die Publikationen stellen die zuvor häufig in sozialen Medien erstveröffentlichten Gedichte in einen neuen Kontext, bewahren sie für künftige Generationen und erschließen ihnen durch Übersetzungen eine zusätzliche Leserschaft.

Gedichte als Zeugnis

Poesie erlaubt eine schnelle Reaktion auf Ereignisse; sie verdichtet Geschehenes, formt es zu sprachlichen Bildern und macht vermeintlich Unsagbares für andere erfahrbar. So findet sich eine der bedrückendsten und gleichzeitig präzisesten Schilderungen der immer weiter eskalierenden Repressionsspirale in Belarus in einem Gedicht von Taciana Niadbaj:

(2020–2023)

Festgenommen und ohne Protokoll freigelassen
Gut, dass es nur drei Tage sind, keine Geldstrafe
Gut, dass sie nicht geschlagen haben
Gut, dass es eine Geldstrafe ist, keine Kurzhaft
Gut, dass es Kurzhaft ist, aber wenigstens mit Matratze
Gut, dass es 15 Tage sind, keine 30
Gut, dass sie nicht geschlagen haben
Gut, dass es 90 Tage sind, kein Strafverfahren
Gut, dass es ein Strafverfahren ist, aber nicht geschlagen wurde
Gut, dass es Strafarbeit ist, aber am eigenen Wohnort
Gut, dass es Strafarbeit ist, keine jahrelange Haft
Gut, dass es zwei-drei Jahre sind, kein Dutzend
Gut, dass es U-Haft ist, kein Straflager
Gut, dass es normaler Vollzug ist, kein verschärfter
Gut, dass es Briefe gibt, trotz verschärftem Vollzug
Gut, dass es Straflager ist, keine Einzelhaft
Gut, dass es Einzelhaft ist, kein Karzer
Gut, dass es Karzer ist, er aber gesund
Sie haben geschlagen, aber wenigstens ist er gesund
Gut, dass er wieder frei ist, jetzt planen wir die Therapie
Er sitzt noch ein, aber wenigstens lebt er
Ich bete nur, dass er lebend rauskommt[3]

Wie ein Mantra wiederholt das lyrische Ich die Formel „Gut, dass …“ und zeigt, wie eine Gewöhnung an die Repressionen des Regimes einsetzt und sich deren Bewertung schrittweise verschiebt. Die erst nach 2023 hinzugefügte letzte Verszeile „Ich bete nur, dass er lebend rauskommt“ verdeutlicht die immer hoffnungsloser werdende Situation im belarusischen Strafvollzug; seit 2020 verstarben mindestens neun politische Gefangene in Haft. Die hier spürbare Ohnmacht wird durch den Akt des Dichtens zumindest teilweise überwunden: Indem die Dichterin nicht schweigt, sondern Zeugnis über die Verbrechen des belarusischen Regimes ablegt, tritt sie ihm entgegen. Das Gedicht dokumentiert somit nicht nur die Verbrechen unter Lukaschenka, sondern zugleich den fortbestehenden Widerstand, selbst wenn dieser inzwischen ins Exil verlagert ist.

Lyrik als Zufluchtsort

Die Zerrissenheit zwischen der alten Heimat und dem neuen Leben im Exil, das Heimweh und die finanziellen, aufenthaltsrechtlichen und sonstigen Unsicherheiten, sind wiederkehrende Themen der belarusischen Gegenwartsdichtung. Hanna Komar hat für ihren 2022 erstveröffentlichten, bislang nicht ins Deutsche übersetzten Band „Wir werden zurückkehren“ 20 Interviews mit belarusischen Emigrant*innen zu poetischen Monologen verdichtet. Der Wunsch nach Heimkehr spricht aus vielen Texten. So besteht ein Gedicht schlicht aus der viermal wiederholten Verszeile „ich will nach Hause“, abgeschlossen durch den selbstkritischen, möglicherweise ironischen Ausruf „verdammte Emigrantin“. Daran, dass die unfreiwilligen Migrant*innen eines Tages nach Belarus zurückkehren werden, lässt der Titel des Bandes jedoch keinen Zweifel. Auch das lässt sich als ein Zeichen des Widerstands lesen.

Das Thema Zerrissenheit ist in Julia Cimafiejevas 2025 erschienenem Collagenband „Ich zerschneide die Geschichte“ omnipräsent. So „lugt“ das lyrische Ich in einem Gedicht „durch den spalt der neuen erfahrung auf die fremden landschaften ringsum“, allerdings nur „mit einem auge“, denn „das andere auge ruht geschlossen / in vergangenheit und heimat“, die unerreichbar sind. In einem anderen Gedicht fragt das lyrische Ich nach der „anleitung“ für den „emigrantenbaukasten“, aus dem es sich – anders als die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft – „jeden tag neu zusammensetzen muss“. Dass aus Zerrissenem auch etwas Neues entstehen kann, zeigt Cimafiejeva indes eindrücklich in ihren absurden Collagen, die die Gedichte illustrieren. Die aus Fragmenten unterschiedlicher Herkunft geschaffenen Papierkunstwerke haben damit etwas Tröstliches, was sie mit der Poesie verbindet.

Trost ist eine nicht zu unterschätzende Funktion von Lyrik, die etwa Volha Hapeyeva in ihrem preisgekrönten Essay „Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils“ reflektiert. Dort erzählt sie, wie ein inhaftierter Freund sie bat, ihm ihre Gedichte ins Gefängnis zu schicken: „das half ihm dort zu überleben.“ Beim Lesen ist der Einzelne nicht mehr allein, die Isolation – ob im Gefängnis oder Exil – wird durch das Eintauchen in die Gedankenwelt anderer überwunden. Poesie kann dadurch Kraft und Hoffnung geben, und sie kann, so stellt Hapeyeva für sich fest, gerade im Exil ein „Zuhause“ sein.


[1] Über diese Einstufungen entscheidet das Informationsministerium der Republik Belarus. Beide Listen sind auf der Ministeriumshomepage unter der Rubrik Dokumente als Word-Datei abrufbar.

[2] So hat sich das Projekt „33 Bücher für ein anderes Belarus“ zum Ziel gesetzt, in Zusammenarbeit mit europäischen Verlagen Bücher zu veröffentlichen, die in Belarus nicht mehr erscheinen können. Neben den gedruckten Ausgaben werden die 33 Titel auch als E-Books veröffentlicht, um Leser*innen in Belarus weiterhin zugänglich zu bleiben.

[3] Das belarusische Original wurde 2023 auf Nasha Niva erstveröffentlicht und findet sich in gedruckter Form in Taciana Niadbaj, Там, за сцяной (Dort, hinter der Wand), Berlin 2024: hochroth Minsk, S. 7. Die deutsche Übersetzung stammt von Tina Wünschmann. Für die Erlaubnis zum Abdruck des kompletten Gedichts bedanke ich mich bei Dichterin und Übersetzerin.


Nina Frieß ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS, wo sie zu russophonen Literaturen, belarusischer (Exil)kultur und Kinder- und Jugendliteraturen forscht.