Wenn Protest zur Politikform wird
Viele Länder Südosteuropas erleben seit Jahren immer wiederkehrende Wellen von Massenprotesten, die häufig zum Sturz der Regierung und zu Neuwahlen führen. Dieser Zyklus prägt das politische System – und hält trotz der entstehenden Instabilität und politischen Krisen das Versprechen der Demokratie am Leben.

Seit fast einem Jahr organisieren Studierende und Bürger*innen die größte Protestwelle in der jüngeren Geschichte Serbiens. Gleichzeitig befindet sich Bulgarien in der tiefsten politischen Krise seit dem Übergang des Landes zur Demokratie. In den vergangenen vier Jahren erlebte das Land sieben Parlamentswahlen, jeweils ausgelöst durch massive Anti-Korruptions-Demonstrationen und den Aufstieg neuer Oppositionsparteien. In ähnlicher Weise haben Unzufriedenheit mit der Elite und Korruption sowie neue politische Projekte in den letzten Jahren wiederholt die politische Ordnung in Südost-, Mittel- und Osteuropa erschüttert.
Diese Ausbrüche sind keine isolierten Ereignisse, sondern Teil einer spezifischen Regimelogik, in der Proteste zur primären Form des demokratischen Ausdrucks geworden sind – insbesondere angesichts eines stark vereinnahmten Staates und unempfänglicher Eliten. Anstelle institutioneller Reformen und eines stabilen Parteienwettbewerbs sind Massendemonstrationen und Protestwahlen zu wiederkehrenden Mechanismen der demokratischen Erneuerung geworden. Ich nenne diese Regimelogik „Protestdemokratie” – ein Konzept, das ich in meiner laufenden Forschung entwickle.
Eine vorläufige Analyse von rund 80 Protestwellen in Südosteuropa in den letzten vier Jahrzehnten legt nahe, dass diese Logik in den einzelnen Ländern mit unterschiedlicher Intensität, Form und Abfolge auftritt. In Fällen wie Bulgarien, Rumänien und Slowenien führen ständig neue politische Projekte und massive Anti-Korruptions-Proteste zu Krisen- und Mobilisierungszyklen. In restriktiveren Ländern mit illiberalen und autoritären Tendenzen, wie beispielsweise Serbien, sieht die Abfolge anders aus: Je mehr die herrschende Elite Oppositionsstimmen den Raum nimmt, desto mehr Bürger*innen wenden sich in immer neuen Wellen der Unzufriedenheit Massenprotesten zu.
Warum Protestdemokratie wichtig ist
Das Konzept der Protestdemokratie kann die Wechselwirkungen zwischen Protesten und Wahlen, Bewegungen und Parteien erklären und dabei helfen, zu verstehen, warum westliche Perspektiven oft nicht die Bedeutung kollektiven Handelns in Südosteuropa erfassen können. Protestdemokratie betont die Rolle von Straßenprotesten als Quelle der Legitimität und als Mechanismus der politischen Partizipation in Zeiten sinkenden Vertrauens in Institutionen und Wahlen. Sie bietet einen theoretischen Blick und einen vergleichenden Rahmen, der über die Standardkonzepte, die in erster Linie mit Blick auf westliche liberale Demokratien entwickelt wurden, hinausgeht.
Bulgarien als paradigmatischer Fall
Bulgarien veranschaulicht die Protestdemokratie am deutlichsten. Frühere Studien haben das Land als eines beschrieben, das einen von der Elite vorangetriebenen Übergang zur Demokratie mit einer schwachen Zivilgesellschaft inmitten eines sozioökonomischen Zusammenbruchs durchlaufen hat. Meine laufenden historischen Forschungen weisen in die entgegengesetzte Richtung: Vom Ende des Kommunismus bis heute war Protestpolitik der Hauptmotor der demokratischen Erneuerung. Vier großangelegte Protestwellen in den Jahren 1989, 1997, 2013 und 2020 sowie drei Wahldurchbrüche von Herausfordererparteien in den Jahren 2001, 2009 und 2021 haben den Status quo erschüttert.
Doch jeder Zyklus brachte keine dauerhaften institutionellen Veränderungen und endete in Enttäuschung. Neue Parteien verloren schnell ihre Legitimität, wiederholten die Fehler ihrer Vorgänger oder wurden von genau dem System absorbiert, das sie reformieren wollten. Infolgedessen schuf jede Protestphase die Voraussetzungen für die nächste politische Krise.
In Protestdemokratien sind kontroverse politische Debatten keine Anomalien, sondern erwartete Reaktionen auf Krisen. Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime gab den Ton für ein Modell politischer Dynamik an, in dem Protestmobilisierung eine entscheidende Rolle im öffentlichen Raum und im Parteienwettbewerb spielt, insbesondere für die aufstrebende Opposition.
Seit Ende der 2000er Jahre haben alle postkommunistischen Staaten einen Anstieg informeller und dezentraler kollektiver Aktionen erlebt, darunter Studierendenblockaden, Nachbarschaftsinitiativen und spontane, online organisierte Demonstrationen. Diese Grassroots-Mobilisierungen tauchen selten in üblichen Indikatoren für Protestbeteiligung auf, wie zum Beispiel der Mitgliedschaft in NGOs oder Parteien. Sie sind jedoch Ausdruck von starkem Widerstand und Solidarität innerhalb der Zivilgesellschaft.
Der Einfluss von Protestdemokratie
Auf der Grundlage nicht nur des bulgarischen Falls, sondern auch anderer Fälle in Südost-, Mittel- und Osteuropa habe ich in früheren Forschungen gemeinsam mit Dragomir Stoyanov vier Möglichkeiten identifiziert, wie Protestbewegungen Veränderungen in politischen Parteien und der breiteren politischen Arena beeinflussen.
Erstens führen sie zu Wahlinstabilität. Proteste untergraben die öffentliche Unterstützung für Amtsinhaber, zwingen sie zum Rücktritt und zu vorzeitigen Neuwahlen oder schaffen die Voraussetzungen für eine Neuausrichtung. So führten beispielsweise innerhalb weniger Monate im Jahr 2013 Anti-Monopol-Proteste in Bulgarien zum Rücktritt der ersten Regierung von Premierminister Bojko Borissow und zu Neuwahlen. In ähnlicher Weise führten die Proteste in Slowenien 2012–2013 zum Rücktritt des Bürgermeisters von Maribor.
Zweitens restrukturieren Protestbewegungen das Parteiensystem durch neue Parteien. Herausforderer nutzen die politischen Möglichkeiten, die Massenproteste schaffen. Bulgarien ist ein Extremfall mit einer der höchsten Wahlvolatilitätsraten in Europa. Zwei neue Parteien – „Wir setzen den Wandel fort“ und „Es gibt ein solches Volk“ – gewannen jeweils Wahlen, mussten danach jedoch einen Rückgang ihrer Unterstützung hinnehmen. In Slowenien gewann die neue Herausfordererpartei „Freiheitsbewegung“ nach der letzten massiven Mobilisierung gegen die Regierung in den Jahren 2020–2022 die Parlamentswahlen 2022 mit 34,5 Prozent der Stimmen.
Proteste können auch dazu beitragen, dass sich Wahlbündnisse formieren. In Serbien und Ungarn waren Demonstrationen der Anlass dafür, dass Oppositionsparteien aus dem linken und rechten Lager Koalitionen wie „Serbien gegen Gewalt“ bildeten. Auch soziale Bewegungen können sich im Laufe der Zeit zu politischen Parteien wandeln, indem sie ihre Forderungen institutionalisieren. Dies zeigt sich in neuen linken Bewegungen wie „Wir können!“ in Kroatien, „Die Linke“ in Slowenien und der „Grün-Linken Front“ in Serbien sowie der liberalen Koalition „Demokratisches Bulgarien“.
Drittens verändern disruptive Bewegungen Spaltungen. Proteste können neue Trennlinien schaffen oder alte wiederbeleben. Bei der jüngsten Protestwelle in Bulgarien führten Demonstrationen zu einer Spaltung zwischen traditionellen und neu gegründeten Parteien.
Viertens sind Proteste eine symbolische Ressource für Amtsinhaber. Eliten greifen zunehmend selbst auf Protestrepertoires zurück, organisieren Kundgebungen und Gegendemonstrationen oder gründen von der Regierung geförderte NGOs, um ihre Legitimität zu demonstrieren und ihre Anhängerzahlen mit denen von regierungskritischen Demonstrationen zu vergleichen. So veranstalteten beispielsweise während der Anti-Regierungs-Proteste im Jahr 2013 die regierenden Parteien Bulgariens eine Demonstration in Sofia mit Zehntausenden von Anhänger*innen. Im April 2025, nach mehreren Monaten studentischer Demonstrationen gegen Korruption und mangelnde Transparenz, veranstaltete die regierende Fortschrittspartei Serbiens eine regierungsfreundliche Kundgebung in Belgrad.
Die Zukunft der Politik?
Ist Protestdemokratie nur ein postkommunistisches Phänomen, das Ergebnis unempfänglicher Eliten und hoher Erwartungen der Bürger? Wie die politischen Turbulenzen in Europa und darüber hinaus zeigen, ist diese Logik der Protestkrise nicht auf die postkommunistische Region beschränkt. Anzeichen dafür finden sich auch anderswo, wie zum Beispiel im jüngsten Aufstand in Nepal, der Welle von Herausfordererparteien in ganz Europa und dem zunehmenden gezielten Einsatz von Protesten in der Wahlpolitik.
Die Zyklen von Mobilisierung und Krise in Südosteuropa deuten darauf hin, dass Protestdemokratie keine vorübergehende Anomalie ist, sondern eine dauerhafte Form der demokratischen Erneuerung. Sie prägt seit über drei Jahrzehnten die Politik und hält das Versprechen der Demokratie am Leben, wo Institutionen und politische Eliten versagt haben. Diese Regimelogik könnte nun über die Region hinaus Resonanz finden.
Dr. Ivaylo Dinev ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZOiS, wo er das multimethodische Datenlabor des vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt geförderten KonKoop-Forschungsnetzwerks koordiniert.