ZOiS Spotlight 5/2022

Warum Selenskyj die Gefahr einer Eskalation in der Ukraine herunterspielt

Von Valeria Korablyova 09.02.2022
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Slenskyj während einer Rede zum nationalen Tag der Marine. IMAGO / ITAR-TASS

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Es mag eine tragische Ironie des Schicksals oder die logische Konsequenz seiner Strategie des Appeasements gegenüber Moskau sein: Wolodymyr Selenskyj, der 2019 die Präsidentschaftswahl in der Ukraine mit einer überwältigenden Mehrheit und dem Versprechen gewann, dem kriegsversehrten Osten des Landes Frieden zu bringen, sieht sich nun damit konfrontiert, dass die Gefahr eines umfassenden russischen Einmarschs seit Beginn des Konflikts im Jahr 2014 noch nie so hoch war wie jetzt. Seine jüngsten öffentlichen Ansprachen standen jedoch in einem dramatischen Gegensatz zur allgemeinen Besorgnis, dass es zu einem Krieg von massivem Ausmaß kommen könnte.

Wie ein roter Faden zog sich die wiederholte Behauptung, die aktuelle Situation sei „nichts Neues“, durch eine am 19. Januar veröffentlichte Videobotschaft Selenskyjs an die ukrainische Bevölkerung. „Und was genau ist hier die Neuigkeit?“, fragt er. „Ist diese [Situation] nicht seit mittlerweile acht Jahren Realität? Hat der Einmarsch nicht schon 2014 begonnen? Ist die Gefahr eines Krieges gerade erst aufgekommen? Diese Risiken bestehen seit langer Zeit und sind nicht größer geworden. Es ist der Rummel um sie, der gewachsen ist.“ Selenskyj bekräftigte diese Position in einer Pressekonferenz mit ausländischen Medien Ende Januar, bei der er zwar zugab, dass die Kriegsgefahr hoch sei, sie jedoch nicht höher als im vergangenen Jahr einschätzte.

Dieses Narrativ verträgt sich schlecht mit den beharrlichen Bitten der Ukraine an ihre westlichen Partner*innen, präventive Sanktionen gegen Russland zu erlassen, um eine mögliche Eskalation an der östlichen Grenze der Ukraine zu verhindern. „Warum erlassen Sie jetzt keine Sanktionen, anstatt zu warten, bis die Situation eskaliert ist?“, fragte Selenskyj in einem Interview mit der Washington Post. „Ich sehe nicht, warum die Welt nicht geschlossen hinter der Einführung von Sanktionen stehen sollte. […] Und falls dies ein Krieg werden sollte, dann wird es ein sehr schwerer Krieg und alle werden verlieren.“

Die politischen Ziele hinter Selenskyjs populistischer Rhetorik

Diese Zitate offenbaren die unterschiedlichen Absichten, die Selenskyj verfolgt. Erstens versucht er – oberflächlich betrachtet –, die ukrainische Bevölkerung zu beruhigen und zu verhindern, dass die Menschen in Panik geraten, was in Anbetracht einer möglichen Eskalation kontraproduktiv wäre. Dies tut er jedoch auf eine bevormundende Weise. Anstatt rationale Diskussionen über die Entwicklungen vor Ort und mögliche Gegenmaßnahmen zu führen, ermuntert er die Menschen, sich in ihr Privatleben zurückzuziehen und darauf zu vertrauen, dass er eine Lösung finden wird: „Was sollten Sie tun? Nur eins – ruhig bleiben.“ Er ruft die Menschen dazu auf, sich auf baldige Grillabende im Frühling, ihren Sommerurlaub, Hochzeitsfeiern und die im Herbst stattfindende Fußballweltmeisterschaft zu freuen. Was Selenskyj tut, ist mehr als den Menschen eine optimistische Botschaft zu vermitteln, und ihnen damit zu erzählen, was sie angeblich hören wollen. Er demobilisiert und entpolitisiert die Bevölkerung.

Zweitens lenkt er mit seiner Behauptung, dass die aktuelle Situation nichts Neues sei, von Vorwürfen politischen Versagens gegen ihn ab, und schiebt seinen Vorgängern die Schuld in die Schuhe. Selenskyj setzt auf die populistische Strategie, Schuld zu externalisieren, und nutzt korrupte einheimische und westliche Eliten, die angeblich von der Krise profitieren würden, als Feindbilder: „Wenn Russland gemeinsame Wirtschaftsprozesse mit einigen europäischen Staaten hat, dann ist Nord Stream 2 für uns eine Waffe gegen die Ukraine. […] Ich verstehe, dass die Russische Föderation ein großer Markt ist. […] Es ist offensichtlich, die Welt ist zynisch, alles dreht sich um Geld. Zuerst Geld – dann Leben.“ Während der Kreml in der Rhetorik des Präsidenten überhaupt keine Rolle spielt, werden die Adressat*innen des von ihm aufgebauten moralischen Drucks ebenfalls nicht direkt genannt. Sie werden jedoch vage als „die Welt“, „jemand“ oder „unsere Partner“ bezeichnet.

Drittens sendet Selenskyj drei verschiedene Botschaften gleichzeitig, die miteinander in Konflikt stehen und sich an unterschiedliche internationale Gruppen richten. Er versucht, sich die Unterstützung westlicher Beamt*innen zu sichern, zugleich eine breitere Öffentlichkeit vor den möglichen Folgen einer russischen Aggression zu warnen und außerdem internationale Investor*innen davon zu überzeugen, ihr Kapital im Land zu belassen. Dieses dritte Ziel ist in jüngster Zeit in den Vordergrund getreten und scheint für ihn nun die dringlichste Aufgabe: „Und jetzt greifen sie aktiv […] die Emotionen der Investor*innen und die Bedingungen für Unternehmen an, um die Ukraine zu schwächen.“ Dieser Versuch, zwischen mehreren Zielen hin- und herzujonglieren, nimmt zunehmend chaotische Züge an und könnte unerwünschte Folgen nach sich ziehen, bietet er Selenskyjs Gegner*innen doch eine willkommene Basis für ihre eigenen Gegennarrative.

Der Faktor Kreml und die Schwächen einer mehrgleisigen Kommunikationsstrategie

Der Kreml kommt in Selenskyjs öffentlichen Äußerungen nicht vor. Nur selten wird die Gegenseite des Konflikts in der Ostukraine erwähnt – und wenn sie erwähnt wird, dann üblicherweise in Form indirekter Andeutungen wie „Alle wissen, wer die Krim besetzt hat, alle wissen, wer die Separatist*innen unterstützt“. Es dominiert ein Bild des Krieges, das ihn als eine tragische „Situation“ darstellt und sich auf seine Konsequenzen konzentriert, nicht seine Ursachen.

Der ukrainische Präsident scheint an seiner Absicht, Kompromisse zu finden, konsequent festzuhalten und vermeidet sorgfältig jegliche radikale, militante Rhetorik, um sich diese Möglichkeit nicht zu versperren. Wird er in die Enge getrieben und direkt gefragt, ob er den russischen Präsidenten Wladimir Putin für einen Mörder halte, antwortet Selenskyj: „Es gibt Fragen, an deren Antworten Menschen sterben können, die eine Eskalation auslösen können. Man kann (uns – Anm. d. Red.) jetzt die immerhin kleine Chance nehmen, die Situation zu lösen. Deshalb denke ich nicht, dass man solche Fragen stellen oder beantworten sollte, selbst wenn man es wirklich möchte.“

Während er sich selbst als einen pragmatischen Anführer ohne besondere ideologische Präferenzen präsentiert, verweist Selenskyj darauf, dass die Haltung der ukrainischen Bevölkerung möglichen Kompromissen Grenzen setze: „Eine komplett von Russland kontrollierte Regierung einzusetzen, wäre unmöglich. Selbst wenn sie das tun würden, wäre diese Regierung nicht von langer Dauer, da die Menschen sie schlichtweg nicht akzeptieren würden.“ Auf einer Pressekonferenz erklärte er zudem kürzlich: „Die Menschen sind sehr patriotisch eingestellt. Sie sehen, was in den besetzten Gebieten geschehen ist, und wollen das nicht.“ 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Selenskyjs öffentlich eingenommene Haltung entlang mehrerer Bruchlinien bewegt: erstens zwischen seinen öffentlichen Behauptungen und den hinter verschlossenen Türen geführten Verhandlungen; zweitens zwischen seinem unideologischen Standpunkt und den roten Linien der ukrainischen Bevölkerung; und drittens zwischen dem Kampf für bestimmte Werte und dem Versuch, wirtschaftliches Wachstum zu generieren. Jedoch werden die Schwächen seiner Strategie, mehrere Signale gleichzeitig auszusenden, sich zum Hauptproblem entwickeln. Für unterschiedliche Empfänger*innen vorgesehene Botschaften vermischen sich und erzeugen unerwünschte Effekte oder werden von gegnerischer Seite bewusst für Kampagnen gegen die ukrainische Sache genutzt. Am Ende könnte ein Verlust jener stabilen internationalen Unterstützung stehen, die momentan offenbar noch als selbstverständlich betrachtet wird.


Dr. Valeria Korablyova ist Senior Research Fellow am Institut für Osteuropäische Studien an der Karls-Universiät Prag.