ZOiS Spotlight 22/2025

Georgien: Warum Europa jetzt handeln muss

Von Khatia Kikalishvili 03.12.2025

Dass Georgien in den Autoritarismus abgleitet, ist weit mehr als ein innenpolitischer Prozess. Russland testet dort, wie weit sich repressive Politik und antiwestliche Narrative verbreiten lassen, ohne dass die EU gegensteuert. Der zivilgesellschaftliche Widerstand ist stark, doch Europas Handeln ist unerlässlich.

Eine Hand hält eine EU- und eine Georgien-Flagge. Im Hintergrund ist eine Menge Demonstrierender zu sehen.
Anti-Regierungs- und Pro-EU-Proteste in Tbilissi im Dezember 2024. IMAGO / NurPhoto

Gut ein Jahr ist es her, dass der umstrittene georgische Premierminister Irakli Kobachidse angekündigt hat, die EU-Beitrittsverhandlungen einseitig auf Eis zu legen. Seither protestiert ein großer Teil der georgischen Bevölkerung, der die Zukunft des Landes eindeutig in der EU verortet und nicht als Vasall eines neoimperialistischen Russlands, täglich gegen diese Entscheidung.

Was sich in Georgien vollzieht, ist daher weit mehr als eine innenpolitische Auseinandersetzung eines EU-Beitrittskandidaten. Vielmehr wird ein strategisch orchestriertes Experiment durchgeführt, dessen politische Logiken der Kreml still befördert und das sich mittlerweile unverkennbar in der Rhetorik der Regierungspartei Georgischer Traum (GT) widerspiegelt. Zwar existiert auf zivilgesellschaftlicher Ebene weiterhin eine widerstandsfähige, klar westlich orientierte demokratische Haltung, doch droht sie ohne substanzielle Unterstützung der europäischen Partner unter der sich verfestigenden Autokratie zu ersticken. Europa muss Georgien deshalb als Prototyp begreifen – als Versuchsobjekt, an dem Moskau testet, wie weit sich autoritäre Praktiken und antiwestliche Narrative in einem EU-Beitrittskandidaten verankern lassen, ohne dass ernsthafte europäische Gegenmaßnahmen folgen.

Parteiverbote und Repressionen

Vor diesem Hintergrund ist die Ankündigung des GT vom 4. November zu bewerten, die wichtigsten prowestlichen Oppositionsparteien – darunter Ahali, Lelo und die Vereinigte Nationale Bewegung – verbieten zu wollen. Parallel dazu haben der Sicherheitsdienst und die Staatsanwaltschaft neue Strafverfahren gegen bereits inhaftierte Oppositionsführer eröffnet. Offiziell ist von Sabotage, Unterstützung feindlicher Staaten oder der Untergrabung der nationalen Sicherheit die Rede. Tatsächlich jedoch handelt es sich um eine systematische Kriminalisierung jener Kräfte, die internationale Partner zur Verteidigung demokratischer Institutionen und zu Sanktionen gegen die mit Russland verflochtene politische Elite aufgerufen haben. Mit der fortgesetzten Entmachtung unabhängiger Institutionen und der gezielten Ausschaltung politischer Konkurrenz nähert sich das Land in alarmierendem Tempo dem autoritären Modell seines nördlichen Nachbarn an.

Widerstand unter Druck – und dennoch geeint

Gleichzeitig zeigt sich, dass der demokratische Widerstand trotz massiver Repressionen bemerkenswert standhaft bleibt. Die Zivilgesellschaft, die bereits seit Juni 2023 durch das sogenannte „Gesetz über ausländische Agenten“ nach russischem Vorbild erheblich unter Druck steht, ist Verhören, Kontosperrungen, administrativen Schikanen und alltäglicher Einschüchterung ausgesetzt. Medienschaffende werden festgenommen, mit Geldstrafen belegt und an der Ausübung ihrer Arbeit gehindert. NGOs, die Rechtsbeistand leisten oder Menschenrechtsverletzungen dokumentieren, werden zunehmend als „Staatsfeinde“ stigmatisiert. Und dennoch fungieren sie weiterhin als eine der letzten demokratischen Säulen eines Landes, das an der Schwelle zu einem autoritären System steht.

Jüngst kündigte der GT zudem eine Gesetzesänderung an, nach der georgische Staatsbürger*innen im Ausland nicht mehr wählen dürfen, sondern zur Stimmabgabe nach Georgien reisen müssen. Parlamentspräsident Shalva Papuashvili begründete dies mit der Behauptung, im Ausland lebende Georgier*innen stünden „unter dem Einfluss deutscher Politiker“ und würden daher gegen die Regierungspartei stimmen. Dieser Schritt stellt einen gravierenden Eingriff in die politischen Grundrechte georgischer Bürger*innen dar und schwächt ihre demokratische Teilhabe bewusst.

Angriff auf Europa: Desinformation als Regierungsstrategie

Während sich der Widerstand festigt, intensiviert der GT eine umfassende antiwestliche Kampagne. In regierungsnahen Fernsehsendern wird die EU zunehmend mit sowjetischer Rhetorik diskreditiert. Besonders Deutschland gerät ins Visier: Wegen seiner klaren Haltung zu Sanktionen und Menschenrechten wird die Bundesrepublik regelmäßig als „einmischende Macht“ dargestellt.

Der deutsche Botschafter in Georgien Peter Fischer wird dabei zum Ziel systematischer persönlicher Angriffe. Ihm wird in regierungsnahen Medien vorgeworfen, „die kriminelle Opposition“ zu unterstützen – ein Narrativ, das eindeutig die politischen Muster des Kremls reproduziert. Moskau versucht seit Jahren, europäische Demokratien als manipulative Akteure und jede prowestliche Opposition als fremdgesteuert darzustellen.

Was Europa jetzt tun muss

Georgien befindet sich damit an seinem gefährlichsten politischen Wendepunkt seit der Unabhängigkeit. Parteiverbote, Massenstrafverfahren, ein drastisch schrumpfender zivilgesellschaftlicher Raum und offene antieuropäische Botschaften bergen die reale Gefahr, dass das Land sich endgültig von demokratischen Standards verabschiedet und in den Einflussbereich des Kremls gerät. Das Fenster für politisches Gegensteuern ist noch offen – doch es schließt sich rapide.

Europa verfügt über mehrere Handlungsoptionen, um den aktuellen Entwicklungen entgegenzusteuern. Dazu zählen:

  • Gezielte Sanktionen gegen die oligarchische Elite, insbesondere gegen jene, die aktiv an der Aushöhlung demokratischer Strukturen beteiligt sind.
  • Massive und sichtbare Unterstützung für NGOs und unabhängige Medien, einschließlich finanzieller Soforthilfen und Schutzmechanismen.
  • Eine klare politische Kommunikation, die Bedingungen und Konsequenzen benennt, wenn demokratische Institutionen weiter untergraben werden. Deutschland könnte über die Weimar-Plus-Formate eine zentrale Rolle spielen, um international Aufmerksamkeit zu mobilisieren und die Priorisierung Georgiens in der EU-Außenpolitik sicherzustellen.
  • Eine aktive Präsenz in Tbilissi, etwa durch verstärkte EU-Beobachtungsmissionen und hochrangige diplomatische Besuche, um der georgischen Bevölkerung sichtbar den europäischen Rückhalt zu signalisieren.

Die Zukunft Georgiens – und damit eines Teiles der europäischen Sicherheitsarchitektur – entscheidet sich jetzt. Wenn Europa nicht entschlossen handelt, riskiert es den Verlust eines Landes, dessen Gesellschaft trotz aller Repressionen klar auf den europäischen Weg setzt. Georgien ist heute nicht nur ein Konfliktfeld zwischen Demokratie und Autoritarismus, sondern ein Testfall dafür, wie Europa auf hybride und politisch orchestrierte Einflussnahme seitens Russlands reagiert. Ein Wegsehen wäre ein Signal der Schwäche, das weit über den Südkaukasus hinauswirken würde.


Dr. Khatia Kikalishvili ist Programmdirektorin für Östliche Partnerschaft am Zentrum Liberale Moderne (Libmod).