ZOiS Spotlight 36/2020

Eskalation des Konflikts um Bergkarabach

Von Nadja Douglas 07.10.2020
Im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan kam es seit September zu militärischen Angriffen auf beiden Seiten – hier ein Bild aus Stepanakert. © Sergei Bobylev / imago images / ITAR-TASS

Seit September gibt es an der Waffenstillstandslinie rund um die international nicht anerkannte Republik Bergkarabach wieder blutige Gefechte zwischen armenischen und aserbaidschanischen Einheiten. Es geht um Provinzen, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehören, seit einem heftigen Krieg Anfang der 1990er Jahre aber von Armenien kontrolliert und bewohnt werden. Es ist unklar, wie die Gefechte genau begannen. Externe Beobachter*innen sprechen von gezielten Desinformationskampagnen auf beiden Seiten. Laut Expertenberichten und in nüchterner Betrachtung der Motivlagen ist jedoch davon auszugehen, dass die Offensive von Aserbaidschan ausging. Der für Armenien akzeptable Status quo scheint für Baku nicht mehr hinnehmbar. Schon nach wenigen Tagen gab es bereits Hunderte getötete Soldat*innen und Zivilist*innen sowie eine noch höhere Zahl an Verletzten auf beiden Seiten. Beide Staaten haben das Kriegsrecht für das ganze bzw. Teile des Landes verhängt und zur General- bzw. Teilmobilisierung aufgerufen. Zudem warfen sich Aserbaidschan und Armenien gegenseitig den Einsatz von Söldnern aus den Krisengebieten in Syrien und Libyen vor, was vom russischen Außeministerium bestätigt wurde.

In den letzten Tagen wurden vermehrt Städte und Siedlungen in Karabach und auf aserbaidschanischem Staatsgebiet von schwerer Artillerie und Raketen beschossen. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew und Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan beschuldigen sich gegenseitig, Kriegsverbrechen zu begehen und stellen jeweils Bedingungen für einen Waffenstillstand und mögliche Gespräche auf.

Der vielfach als „eingefroren“ bezeichnete Konflikt ist mit bislang mindestens 30.000 Todesopfern sowie ca. einer Million Geflüchteten und Binnenvertriebenen einer der gewaltintensivsten Konflikte im postsowjetischen Raum. Er ist außerdem wesentlich für die fehlende Integration und Zusammenarbeit in der Region. Gewaltsame Auseinandersetzungen begannen nicht erst mit dem Zerfall der Sowjetunion. Das Gebiet des heutigen Bergkarabach ist seit Jahrtausenden umstritten und wechselte immer wieder seine Zugehörigkeit. Pogrome und Massaker von beiden Seiten zeugen von ethnischen Verwerfungen und tiefliegenden Wunden, die das historische und nationale Narrativ in beiden Ländern bis heute prägen, verbunden mit begründeten historischen Ansprüche auf die Region.

Auslöser für die Eskalation

In den vergangenen Monaten gab es immer wieder Spannungen, zuletzt Mitte Juli mit den ersten schweren Gefechten seit dem „April-Krieg“ 2016.  Seitdem hat es zahlreiche Provokationen auf beiden Seiten gegeben, wobei es vor allem Armenien war, das die aserbaidschanische Führung zunehmend reizte. Zunächst kündigte der Vorsitzende des armenischen Sicherheitsrates den Bau einer dritten Verbindungsstraße zwischen Armenien und Bergkarabach an. Dann entschied die armenische Führung, geflüchtete armenische Familien aus dem Libanon in Bergkarabach und den umliegenden Provinzen anzusiedeln. Zudem erklärte der im Frühjahr neu gewählte Präsident der nicht anerkannten Republik, Arajik Harutjunjan, den Sitz des Parlamentes des De-facto-Staates von der Hauptstadt Stepanakert in das zehn Kilometer südlich gelegene Schuschi zu verlegen, das über ein Jahrhundert lang das Zentrum der aserbaidschanischen Bevölkerung in Bergkarabach war. Aserbaidschan wiederum suchte in jüngster Zeit den immer engeren Schulterschluss mit der Türkei und führte zusammen mit den türkischen Streitkräften Ende Juli Militärübungen durch.

Es gibt zahlreiche Indizien dafür, dass der Zeitpunkt für Baku geeignet erschien, die seit 1994 bestehenden Verhältnisse zu revidieren. Bereits Wochen vor dem Ausbruch der Gewalt an der Kontaktlinie ließ Aserbaidschan Reservist*innen einberufen, private Pick-ups beschlagnahmen und veröffentlichte eine Liste mit Provokationen der armenischen Seite. Innenpolitisch steht Präsident Alijew spätestens seit Juli 2020 stark unter Druck, den Worten auch Taten folgen zu lassen.

Baku hatte infolge der „Samtenen Revolution“ 2018 zunächst Hoffnungen in den neuen Premierminister Paschinjan gesetzt, hatte dieser doch im Gegensatz zu seinen Vorgängern keine direkten Verbindungen nach Bergkarabach. Anfangs schien Paschinjan willens, die Verhandlungen voranzutreiben, doch im Zuge des gestiegenen innenpolitischen Drucks (Teile der Opposition und der alten Eliten warfen ihm wiederholt unpatriotisches Verhalten vor) verschärfte sich seine Rhetorik. Er lehnte eine schrittweise Lösung des Konflikts ab und stellte 2019 die Forderung, das Verhandlungsformat zu verändern und das De-facto-Regime in Berg-Karabach zurück an den Verhandlungstisch zu holen.

Erfolglose internationale Vermittlung

Der Konflikt um Berg-Karabach ist ein trauriges Beispiel für die strukturellen Probleme internationaler Konfliktvermittlung auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion durch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Viele Jahre haben sich die internationalen Vermittler damit abgefunden, den Konflikt in einem semi-gefrorenenen aber keineswegs befriedeteten Zustand zu halten. Bis heute gibt es keine internationale Beobachtungsmission, die die Waffenstillstandslinie kontrolliert. Die Öffentlichkeit ist demzufolge allein auf Informationen der Konfliktparteien angewiesen, welche naturgemäß nicht immer objektiv sind. 

In mehreren Verhandlungsrunden seit 1992 wurden zahlreiche Versuche unternommen, eine Lösung herbeizuführen. Mit der Zeit wurde jedoch immer deutlicher, dass die beiden völkerrechtlichen Prinzipien der territorialen Integrität Aserbaidschans auf der einen Seite und das Recht auf nationale Selbstbestimmung der Bevölkerung Bergkarabachs auf der anderen schwerlich miteinander vereinbar sind. Anfang 2020 hatte es noch eine Reihe von OSZE-begleiteten Gesprächen zwischen den beiden Außenministerien in Genf gegeben, doch die Konfliktparteien zeigten immer weniger politischen Willen für Kompromisse.

Im Gegenteil – sie haben mit der Zeit nicht nur rhetorisch sondern auch materiell aufgerüstet. Es ist gerade dieser hohe Militarisierungsgrad, der den Konflikt heute so gefährlich macht und weshalb die internationale Gemeinschaft alle ihr verbliebenen Instrumente einsetzen müsste, um die Konfliktparteien doch noch zu Verhandlungen zu bewegen. Es scheint jedoch, als ob die Europäsche Union, die Vereinten Nationen und die OSZE-Minsk-Gruppe, die alle zu einer sofortigen Waffenruhe aufgerufen haben, nur noch wenige Hebel zur Verfügung haben. Die dominierenden externen Akteure in der Region sind heute Russland und die Türkei.

Türkei als Konfliktverschärfer?

Russland versucht zwar, beide Seiten an den Verhandlungstisch zurückzuholen, hat aber mit den Jahren als Vermittler an Glaubwürdigkeit eingebüßt, da der Kreml die Waffenlieferungen an beide Konfliktseiten bis heute fortführt. Baku fühlt sich vermutlich durch die lavierende Haltung Russlands bestärkt, das sich im Gegensatz zur Türkei nicht eindeutig hinter Armenien stellt und womöglich sogar eine Niederlage Jerewans und damit Paschinjans Sturz in Kauf nehmen würde. Es sind düstere Aussichten, denn sowohl Russland als auch die Türkei haben den Konflikt wiederholt befeuert. Zur Zeit ist es aber vor allem die Türkei, die als Katalysator zur Konfliktverschärfung beiträgt. Bereits im Kontext der Spannungen sowie der gemeinsamen Militärübungen im Juli sagte das türkische Verteidigungsministerium Aserbaidschan militärische Hilfe zu. Dieses Mal geht das Beistandsversprechen der Türkei weiter. In Reaktion auf Einzelerklärungen der Präsidenten der OSZE-Minsk-Gruppe, stellte Ankara klar, dass deren Aufforderung zum Waffenstillstand mit Blick auf die Ereignisse inakzeptabel sei. Es bekräftigte seinen Wunsch, dass erst „die Besatzer das Land räumen müssten, bevor es Ergebnisse geben könnte.“ Die Türkei steht mit dieser Aussage isoliert dar und verfolgt eine eigene Agenda, in der innenpolitische Faktoren mit wirtschaftlichen Überlegungen und einem gewachsenen Geltungsbedürfnis eine problematische Motivlage ergeben. Letztlich sind sich die meisten Beobachter einig, dass der Schlüssel zur Konfliktlösung in der Region bei den Akteuren selbst liegt.


Nadja Douglas ist Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS.