ZOiS Spotlight 7/2022

Die Russische Orthodoxe Kirche und das Militär: Verteidiger heiliger Grenzen

Von Regina Elsner 23.02.2022
Russische Marine-Infanteristen während eines Weihnachtsgottesdienstes in der Region Kaliningrad. Vitaly Nevar IMAGO/ ITAR TASS

Der „Tag der Vaterlandsverteidiger“ am 23. Februar ist nicht nur ein beliebter Volksfeiertag in Russland, an dem schon kleine Jungs mit Postkarten und Schokolade als zukünftige Verteidiger gefeiert werden. Er ist auch ein wichtiger Teil des allgegenwärtigen Narrativs vom wehrhaften Russland, das in der aktuellen Situation zwischen Russland und der Ukraine sowie der NATO in eine neue brisante Etappe eingetreten ist. Die Verteidigung des Vaterlands hat sich dabei als sogenanntes Metanarrativ, also als eine alle gesellschaftlichen und politischen Prozesse erklärende und verbindende Erzählung, verselbständigt.

Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) ist seit dem Ende der Sowjetunion ein zentraler Teil dieser großen Erzählung. Das zeigt sich nicht nur an ihrer prominenten Rolle bei der traditionellen Kranzniederlegung am Grab des unbekannten Soldaten in Moskau am 23. Februar. Sowohl die Frage, gegen wen Russland sich verteidigen muss, als auch die Fragen, wie und durch was oder wen diese Verteidigung erfolgt, werden maßgeblich von der Kirche mitbeantwortet. Angesichts der Erwartungen westlicher Akteure, dass die Kirche eine friedensstiftende Funktion in der andauernden Kriegssituation zwischen Russland und der Ukraine einnehmen könnte, bedarf diese Rolle der Kirche besonderer Aufmerksamkeit.

Wachsende Nähe zum Militär

In den vergangenen Jahren hat sich die Nähe der Russischen Orthodoxen Kirche zum russischen Militär deutlich verstärkt. Dies gilt auf der institutionellen Ebene durch zahlreiche Abkommen zur Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Einheiten des Verteidigungsministeriums, die etwa den Zugang von Militärseelsorgern zu den Truppen absichern, aber der Kirche auch wichtige Teile der moralisch-patriotischen Ausbildung anvertrauen. In der 2021 verabschiedeten Nationalen Sicherheitsstrategie der Russischen Föderation stellen die „traditionellen geistlich-moralischen Werte Russlands“ eine besondere Priorität dar, sowohl als zu schützendes Gut als auch als Voraussetzung für die Verteidigungsfähigkeit des Landes.

Auch die besondere Aufmerksamkeit der Kirchenleitung für die Atomstreitkräfte wird mit dem Wert des Schutzes vor Gefahren begründet. Es war unter anderem die ROK, die den Erhalt und die Weiterentwicklung der atomaren Waffen nach dem Ende der Sowjetunion als zentrales Element der Verteidigung russischer Souveränität unterstützte, 2007 wurde der Heilige Seraphim von Sarow zum Schutzpatron der Atomstreitkräfte ernannt. Die Kirche versteht es als Gottes Fügung, dass an dem Ort des Wirkens des Heiligen, der geschlossenen Stadt Sarow, in den 1950er Jahren das wichtigste sowjetische Atomwaffen-Forschungszentrum erbaut und das atomare Schutzschild Russlands entwickelt wurde – nur wenige Jahrzehnte nachdem das Kloster durch die Bolschewiki besetzt und die Mönche ermordet worden waren.

Schließlich hat die ROK spätestens mit der 2020 eingeweihten Hauptkathedrale der russischen Streitkräfte ein sichtbares Zeichen der Sakralisierung militärischen Handelns gesetzt. Die Symbolik und künstlerische Ausgestaltung der Kathedrale stellt die Siege russischer Soldaten in verschiedenen Jahrhunderten als Heldentaten zur Verteidigung des Vaterlands mit dem besonderen Segen Gottes und der Gottesmutter dar – darunter neben dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg auch die Annexion der Halbinsel Krim 2014, zu der sich die Kirche bis dahin in keiner Weise geäußert hatte.

Kirche und Militär im Verteidigungskampf

2011 hob Patriarch Kirill in einer Rede vor den Führern der russischen Streitkräfte hervor, dass kein Land der Welt so oft Ziel kriegerischer Angriffe war, selbst aber immer nur Verteidigungskriege geführt habe. Er unterstrich die Nähe von kirchlichem und militärischem Dienst als ein Dienen zum Schutz des Vaterlands. Die Kirche sieht sich nicht nur in der Pflicht, die Streitkräfte moralisch zu unterstützen, sondern sie versteht die Verteidigung der geistlichen und politischen Souveränität als organische Verbindung von Kirche und Militär im politischen Gefüge des Landes. Dementsprechend betonte Metropolit Hilarion (Alfeyev), Leiter des kirchlichen Außenamtes, am 2. Februar 2022, dass das kirchliche Außenamt nicht nur als Außenministerium bezeichnet würde, sondern „in den vergangenen Jahren auch eine Art Verteidigungsministerium“ geworden sei.

Die Metaphorik der Verteidigung ist nicht neu. Seit vielen Jahren begründet die Kirche ihre Unterstützung von innen- und außenpolitischen Aktivitäten – auch von repressiven oder paternalistischen – mit dem notwendigen Schutz der traditionellen geistlich-moralischen Werte Russlands, aber auch der sogenannten russischen Zivilisation oder des christlichen Europas. Lange Zeit handelte es sich bei dieser Rhetorik um die gesellschaftliche Erweiterung des eigentlich individuellen geistlichen Kampfes gegen Sünde und moralischen Verfall. Neben entsprechenden Initiativen zum Schutz traditioneller Werte auf nationaler und internationaler Ebene hat allerdings die Nähe zu den Streitkräften diesen Verteidigungskampf in die Realität militärischer Auseinandersetzungen geholt. Die Kirche unterstützte den Einsatz der russischen Armee in Syrien als „heiligen Kampf“, die Intervention Russlands in der Ostukraine 2014 wurde nie öffentlich kritisiert. Die kirchliche „Verteidigung der heiligen Grenzen der Kirche“ und der militärische Einsatz Russlands „zum Schutz verfolgter Christ*innen“ in Syrien, dem Nahen Osten und Afrika entstammen der gleichen Logik und Legitimation.

Die Kirche als Friedenskraft?

Dabei stellt die ROK den Frieden durchaus in das Zentrum ihrer Erklärungen, allerdings verdrängt das Narrativ der Verteidigung jeden positiven, konstruktiven und diesseitigen Zugang zu diesem Frieden. Die Sakralisierung des militärischen Handelns hat keinerlei Gegengewicht in einem kirchlichen Engagement für Gewaltlosigkeit oder zivile Konflikttransformation. Die kirchliche Unterstützung für Organisationen, die sich für ethische Maßstäbe in den bewaffneten Strukturen einsetzen, ist im Vergleich zur Kooperation mit den Streitkräften verschwindend gering, auch, weil solche Organisationen in den vergangenen Jahren systematisch vom Staat unterdrückt werden, und weil die Kirche nach wie vor die Zivilgesellschaft nicht als Partner auf Augenhöhe anerkennt. Die Nähe zu den militärischen Institutionen dagegen macht eine kritische Distanzierung der Kirche im Fall ethisch fragwürdiger militärischen Aktivitäten Russlands äußerst unwahrscheinlich.

Das Narrativ der Verteidigung gegen eine allgegenwärtige Gefahr lässt keinen Raum für Dialog oder (Selbst-)Kritik, für ein Ablegen der Waffen, auch wenn die theologischen Prinzipien der Kirche diese Optionen zur Konfliktlösung bereithalten. Ganz im Gegenteil legitimiert die geistliche Dimension des Verteidigungskampfes auch militärische Grenzüberschreitungen. Der Ruf nach einer vermittelnden, friedensstiftenden Rolle der Kirchen in der aktuellen Eskalation zwischen Russland und der Ukraine verhallt in dieser Situation ungehört. Die herzliche Gratulation des Patriarchen zum Tag der Vaterlandsverteidiger an Putin nach Tagen des Schweigens zur Eskalation in der Ukraine unterstreicht das deutlich.


Regina Elsner ist Theologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS.