ZOiS Spotlight 22/2022

Das Verfassungsreferendum in Kasachstan und das verspätete Ende der Ära Nasarbajew

Von Beate Eschment 08.06.2022
Wählerregistrierung beim Verfassungsreferendum in Kasachstan am 5. Juni. IMAGO / SNA

Am 5. Juni 2022 wurde in Kasachstan per Referendum die Änderung von einem Drittel der Verfassung gebilligt. Mit der sehr kurzfristig anberaumten Volksabstimmung hatte Präsident Kassym-Dschomart Tokajew die Zustimmung der Bevölkerung für seinen bislang größten Schritt zur Reformierung des politischen Systems seines Landes gesucht – und bekommen (77,2 Prozent Ja-Stimmen bei 68,1 Prozent Wahlbeteiligung). Modifizierungen im Wahlrecht oder bei der Registrierung von Parteien sollen zum Beispiel mehr politische Partizipation ermöglichen und Kompetenzen sollen auf regionale oder lokale Ebene verlagert werden und damit eine Dezentralisierung bewirken. Schon diese Maßnahmen bedeuten eine Abwendung vom dem politischen System, das der Erste Präsident des Landes, Nursultan Nasarbajew, im Laufe seiner knapp 30-jährigen Amtszeit (1990-2019) geschaffen hat. Die Verlagerung einiger Kompetenzen vom Präsidenten zum Parlament, in Kasachstan ausdrücklich als Abkehr vom superpräsidialen zum Präsidialsystem bewertet, ist es noch mehr. Die neue Bestimmung, dass Mitglieder der Familie eines Präsidenten weder staatliche Ämter innehaben, noch halbstaatliche Unternehmen leiten dürfen, wirkt wie eine Lehre aus der Ära Nasarbajew. Nicht zuletzt werden nun alle Bezüge auf den Ersten Präsidenten aus der Verfassung gestrichen. Zwar sind die Änderungen nur etwas größere Schritte in einem vom jetzigen Präsidenten Tokajew 2019 begonnenen vorsichtigen politischen Reformprozess, in Bezug auf Nasarbajew markieren sie aber einen wichtigen Einschnitt.

Vom Scheitern eines Planes

Nasarbajew, Jahrgang 1940, hatte am 19. März 2019 seinen Rücktritt erklärt und die Macht offiziell an den von ihm bestimmten Nachfolger Tokajew übergeben, der dann erwartungsgemäß am 9. Juni 2019 von der Bevölkerung gewählt wurde. Ganz offensichtlich war Nasarbajews Rückzug bereits seit vielen Jahren vorbereitet worden. Vor allem wurden 2010 und 2017 gesetzliche Änderungen vorgenommen, die ihm als „Ersten Präsidenten“ entscheidende Kompetenzen auch nach einem möglichen Rücktritt gewährten (und die folgender Präsidenten beschnitten) sowie ihm und den Angehörigen seiner weitläufigen Familie Immunität und die Bewahrung ihres Reichtums garantierten. Sollten diese Maßnahmen einen sanften Personalwechsel für Staat und Familie sichern, so zeigte sich bereits im Frühjahr 2019 bei diversen Protestaktionen vor allem in Almaty, dass manche Bevölkerungsgruppen stärkere Veränderungen erwartet hatten. Die unter anderem durch die weltweiten Corona-Maßnahmen schwierige ökonomische Lage verstärkte die Unzufriedenheit. Sie entlud sich dann Anfang Januar 2022, als Demonstrierende in vielen Städten des Landes nicht nur gegen Preiserhöhungen protestierten, sondern mit dem Slogan „Alter, hau ab!“ auch ihren Unmut gegen die fortdauernde Machtfülle des ehemaligen Präsidenten zum Ausdruck brachten. Tokajew kam ihren Forderungen entgegen und entzog Nasarbajew seine Kompetenzen, darunter vor allem den Vorsitz im Nationalen Sicherheitsrat. Danach kam es hauptsächlich in Almaty zu Gewalttätigkeiten und Zerstörungen in für die Republik Kasachstan nie dagewesenem Ausmaß. Nach offiziellen Angaben hat es mehr als 200 Tote gegeben, die Schäden werden auf über 60 Millionen US-Dollar geschätzt, etwa 1.000 Menschen wurden verhaftet. Wer hinter diesen Ereignissen stand und welche Ziele verfolgt wurden, ist bis jetzt ungeklärt.

Verspäteter Wechsel

Nicht nur hat Nasarbajew Anfang Januar seine Machtkompetenzen und natürlich Ansehen verloren, sondern seine Verwandten und Vertrauten wurden in den letzten Monaten von ihren Führungspositionen abberufen, häufig strafrechtlich verfolgt und in einigen Fällen sogar verhaftet. Die prominentesten Beispiele sind sein Neffe Kairat Satybaldy und der bisherige Vorsitzende des Komitees für Nationale Sicherheit Karim Massimow. Durch die Verfassungsänderungen wird nun auch die Immunität des Ex-Präsidenten und der Mitglieder seiner Familie aufgehoben und der Zugriff auf ihr Eigentum möglich.

Gescheitert ist auch der Versuch eines nicht die Stabilität gefährdenden Wechsels im höchsten Staatsamt. Gewöhnlich wird der Prozess der Nachfolgeregelung in autokratischen Staaten als erfolgreich abgeschlossen betrachtet, wenn der vorbestimmte Nachfolger ohne Unruhen per Wahl legitimiert ist. Durch die von Nasarbajew gewählte Form der bestenfalls unvollständigen Machtübergabe fand er in Kasachstan aber nicht durch die Wahl Tokajews 2019 statt, sondern ausgelöst durch die Januarereignisse erst in diesem Jahr und damit nicht friedlich, was ungewöhnlich ist.

Machtübergabe in autokratischen Regimen

Die Annahme, dass Machtübergänge in autokratischen Regimen die Stabilität ihrer Staaten gefährden, ist zwar weit verbreitet, tatsächlich gibt es aber nur wenige solcher Fälle. Auch die bisherigen Präsidentenwechsel in Zentralasien und dem Kaukasus verliefen ohne größere innere Erschütterungen, wenn auch unterschiedlich: Im Jahr 2003 trat Hejdar Alijew in Aserbaidschan einige Monate vor seinem Tod zurück und ließ seinen Sohn Ilham unangefochten zum Nachfolger wählen; sowohl der erste turkmenische Präsident (2006) als auch sein usbekischer Amtskollege (2016) starben im Amt, ohne dass juristisch oder personell Vorbereitungen getroffen worden waren. In beiden Fällen fand eine interne Einigung in der Elite statt, die Stabilität blieb gewahrt. Inzwischen hat in Turkmenistan mit der Wahl von Serdar Berdimuhamedow zum Nachfolger seines Vaters im März 2022 bereits der zweite gelenkte Wechsel im Amt des Präsidenten seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 ohne jede Erschütterung stattgefunden.

Die Frage, warum die Ereignisse in Kasachstan anders verlaufen sind, wird abschließend erst in einigen Jahren zu beantworten sein. Nach derzeitigem Stand der Dinge liegt die Vermutung nahe, dass weniger die verzögerte Machtübergabe der Kern des Problems ist, als dass Nasarbajew seinen Rücktritt zu lange hinausgezögert hat. Nicht nur wurden so die Bevölkerung und Investoren verunsichert, sondern auch viele kompetente potentielle Nachfolger in der politischen Elite verschlissen. Vor allem hatte er aber spätestens im Januar 2022 offenbar nicht mehr genug Kraft, um seine Macht wirklich durchzusetzen und die Angehörigen seiner eigenen (Groß)familie im Griff zu behalten.

Ein Neubeginn für Kasachstan?

Personalwechsel an der Spitze autoritärer Staaten werden von auswärtigen Beobachtern oft mit der Hoffnung auf einen Systemwechsel verbunden. Die Geschichte gibt dafür jedoch kaum Anlass. In den genannten Fällen im Kaukasus und in Zentralasien sind ebenfalls keine einschneidenden Änderungen zu erkennen.

Die Januarereignisse ermöglichen es Präsident Tokajew jetzt ohne Rücksicht auf seinen Vorgänger und die einflussreichste Elitegruppe Kasachstans zu agieren. Allerdings muss er natürlich die Interessen anderer Eliten des Landes sowie die durch die russische Invasion in die Ukraine schwieriger gewordene außenpolitische Lage seines Landes in Rechnung stellen. Bisher lässt sich nur beobachten, dass seine Reformbemühungen seit Januar Fahrt aufgenommen haben, insgesamt erscheinen sie aber nach wie vor sehr vorsichtig und nehmen vielfach nur Auswüchse der Nasarbajew-Zeit zurück. Grundsätzlich neu ist allerdings, dass Tokajew nicht mehr wie sein Vorgänger politische Reformen zeitlich hinter ökonomische stellt, sondern Schritte in Richtung einer politischen Liberalisierung macht. Er hat ausdrücklich erklärt, dass ökonomische Entwicklung nur bei politischer Modernisierung möglich ist.

Ob Kasachstan durch die per Referendum abgesegneten Verfassungsänderungen wirklich wie zurzeit kolportiert zu einer „Zweiten Republik“, einem neuen, sich von der Ära Nasarbajew klar unterscheidenden Staat wird, hängt davon ab, ob und wie sie realisiert werden. Die eigentliche Arbeit fängt also erst an.


Dr. Beate Eschment ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS und Expertin für Zentralasien.