ZOiS Spotlight 45/2021

Das kurze Leben ukrainischer Mittelschichtsparteien

Von Kostiantyn Fedorenko 15.12.2021
Ein Wahlplakat der Partei “Selbsthilfe” mit ihrem Vorsitzenden Andrij Sadowyj vor den vorgezogenen Parlamentswahlen 2019 in der Ukraine. IMAGO / Ukrinform

In der Ukraine erfreut sich aktuell laut Meinungsumfragen eine noch nicht einmal gegründete politische Partei unter der Führung des früheren Parlamentssprechers Dmytro Rasumkow bereits wachsender Beliebtheit. Auch der Aktivist und beliebte Ex-Komiker Serhij Prytula, der bei der ukrainischen Parlamentswahl 2019 für die Partei „Stimme“ antrat, bereitet sich derweil auf eine Kandidatur bei der nächsten Wahl vor. Zwar haben die beiden Kandidaten bisher weder ihre Programme vorgestellt noch Parteistrukturen gebildet, dennoch ist davon auszugehen, dass sie versuchen werden, die aufkeimende ukrainische Mittelschicht als ihre Kernwählerschaft für sich zu gewinnen.

In der Vergangenheit sind vergleichbare Parteien mit dem Anspruch, die Mittelschicht zu vertreten, allerdings nach kurzer Zeit wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwunden.

Haben neue politische Projekte wie die von Rasumkow und Prytula bessere Chancen? Um das einzuschätzen hilft ein Blick auf die Gründe, die in der Vergangenheit für die Kurzlebigkeit von Mittelschichtsparteien verantwortlich waren.

Der Oberst

Eines der frühesten politischen Projekte, das sich an die ukrainische Mittelschicht richtete, war Anatolij Hryzenkos „Bürgerliche Position“. Ursprünglich als eine NGO gegründet, wurde die Organisation später in eine politische Partei umgewandelt. Hryzenko war zuvor bereits Verteidigungsminister und Vorsitzender des parlamentarischen Komitees für Sicherheit und Verteidigung gewesen. In seinen Partei- und Präsidentschaftswahlprogrammen betonte er vor allem die Rolle einer starken Führung. Dabei ging er so weit, einen „aufgeklärten Autoritarismus“ zu verfechten, der seiner Meinung nach „einen moralischen Standard setzen“ und die wirtschaftlichen Grundlagen für eine Entwicklung der Demokratie schaffen könne.

Hryzenko hat sich konsequent als Politiker für die Mittelschicht positioniert. Von seiner ersten Präsidentschaftskandidatur 2010 bis zu seiner letzten 2019 sowie in beiden Parlamentswahlkampagnen der „Bürgerlichen Position“ nahm die Mittelschicht in den Programmen und der Rhetorik der Partei eine entscheidende Rolle ein. Insbesondere 2019 erklärte sie eine „aktive Zivilgesellschaft und deren Fundament, die Mittelschicht“, zu ihrer Basis. Trotzdem hat sie nie mehr als 3,1 Prozent der Stimmen erreichen können.

Der Bürgermeister

Von den ukrainischen Mittelschichtsparteien war die sogenannte „Selbsthilfeunion“ bisher am erfolgreichsten. Auch sie begann zunächst als NGO und wurde erst 2012 zu einer Partei umgewandelt. Ihr Gründer und De-Facto-Chef Andrij Sadowyj wurde 2006 erstmals zum Bürgermeister von Lwiw gewählt und seitdem dreimal wiedergewählt. Unter seiner Verwaltung entwickelte die Stadt sich zu einem beliebten Reiseziel und die vielen einheimischen Tourist*innen bekamen den Eindruck, dass es der Stadt sehr gut ging. Sadowyj erhielt dadurch eine besondere Aufmerksamkeit, die es ihm ermöglichte, auf nationaler Ebene aktiv zu werden. Seine Partei gewann daraufhin bei der Parlamentswahl 2014 fast 11 Prozent der Stimmen und wurde Teil der neuen Regierungskoalition. Das Wahlprogramm der Selbsthilfeunion von 2014 sah insbesondere auch den Schutz kleiner und mittelständischer Unternehmen und die Förderung von Wissenschaft und Innovationen vor.

Nach ihrem Eintritt ins Parlament litt die Partei jedoch unter internen Konflikten, die dazu führten, dass mehrere Abgeordnete aus der Partei ausgeschlossen wurden. Als es danach in Lwiw zu einem massiven Skandal kam, nahm Sadowyjs persönliches Ansehen erheblichen Schaden. Nachdem er zuvor in Meinungsumfragen noch hohe Ergebnisse erzielt hatte, musste er sich nun zugunsten von Hryzenko aus der Präsidentschaftswahl 2019 zurückziehen. Im selben Jahr gewann die Selbsthilfeunion bei den Parlamentswahlen nur noch 0,62 Prozent der Stimmen.  

Der Sänger

Unmittelbar vor der Parlamentswahl 2019 wurde eine neue Partei namens „Stimme“ unter der Führung von Swjatoslaw Wakartschuk gegründet, dem Frontmann der bekanntesten Rockband der Ukraine. Die Partei konnte 5,8 Prozent der Stimmen gewinnen und ins Parlament einziehen. Obwohl die Mittelschicht in ihrem Wahlprogramm nicht explizit erwähnte wurde, erhob die Partei den Anspruch, ihre Interessen zu vertreten.

Ein Jahr später verzichtete Wakartschuk vorzeitig auf sein Abgeordnetenmandat, um sich wieder seiner kreativen Arbeit widmen. Seine Entscheidung und die darauffolgende Spaltung der Parlamentsfraktion der Partei trugen dazu bei, dass ihr politischer Rückhalt schwand. Der Komiker Prytula, der die Partei seit 2019 aktiv unterstützt hatte, verließ sie 2021 und wird voraussichtlich bei der nächsten ukrainischen Wahl kandidieren.

Der Blogger

Die nach ihrem Gründer Anatolij Scharij – einem bekannten, aber kontroversen Videoblogger auf YouTube – benannte Scharij-Partei (Partija Scharija) steht in Umfragen momentan bei etwa drei Prozent. Auch sie beansprucht eine Partei der Mittelschicht zu sein, definiert diese jedoch so weit, dass sich nahezu alle potenziellen Wähler*innen als ein Teil von ihr betrachten könnten. Dennoch haben nationale Nachwahlbefragungen 2019 gezeigt, dass die Wähler*innen von Scharijs Partei ähnlich wie die der „Stimme“ tendenziell einen höheren Bildungsgrad besaßen und in städtischen Gemeinden lebten. Zielgruppe der Partei sind vor allem die Menschen im Südosten der Ukraine, und unter ihnen vor allem junge Menschen in den Städten, bei denen die Partei besonders beliebt ist.

Im politischen Diskurs der Ukraine gilt Scharijs Partei üblicherweise nicht als eine Interessensvertreterin der Mittelschicht. Die Ansichten ihrer Wähler*innen passen nicht in das traditionelle Bild der ukrainischen Mittelschicht, die als ausgesprochen prowestlich gilt. Einer 2021 durchgeführten Umfrage des International Republican Institute (IRI) zufolge würden sich 11 Prozent der Wähler*innen von Scharijs Partei für einen EU-Beitritt, 53 Prozent jedoch für eine Zollunion mit Russland entscheiden, wenn sie zwischen den beiden Optionen zu wählen hätten.

Gemeinsame Herausforderungen

Alle vier Parteien haben eine klare Gemeinsamkeit: Sie werden von charismatischen Führungsfiguren getragen. Die „Bürgerliche Position“ trat 2014 offiziell als „Bürgerliche Position: Anatolij Hryzenko“ an, um die persönliche Beliebtheit des Politikers in Stimmen für die Partei zu verwandeln. Sadowyj – ein „erfolgreicher, europäischer und progressiver Politiker“, der „in Lwiw angeblich für ein angenehmes Leben sorgte“ – war die treibende Kraft hinter den Ergebnissen der Selbsthilfeunion bei den nationalen Wahlen. Der Name der „Stimme“, der im Ukrainischen wie im Deutschen auch die bei einer Wahl abgegebene Stimme bezeichnet, verweist auf Wakartschuks beruflichen Hintergrund als Sänger, während Scharijs Partei den Namen ihres Anführers prominent in ihrem Parteinamen trägt.

In der ukrainischen Politik ist es nicht ungewöhnlich, dass politische Führungsfiguren eine entscheidende Rolle spielen. Da die politische Landschaft der Ukraine sich in einem rapiden Tempo verändert, sind beliebte Vorsitzende wichtig, um die Wähler*innen für eine Partei zu gewinnen. Allerdings steht das oft Bemühungen im Weg, über die konkreten politischen Vorschläge der Parteien zu sprechen, da die Wähler*innen häufig gar nicht wissen, was die Parteien ihnen – außer einem bekannten Gesicht – anbieten können. In dieser Hinsicht hat die städtische Mittelschicht der Ukraine es nicht geschafft, eine erfolgreiche Partei hervorzubringen, die sich strukturell von den politischen Mainstreamprojekten der Ukraine unterscheidet.

Ihre übermäßige Abhängigkeit von einzelnen Führungsfiguren trägt außerdem dazu bei, dass es vielen Parteien an internem Zusammenhalt mangelt. Sowohl die „Stimme“ als auch die Selbsthilfeunion wurden seit ihrem Eintritt ins Parlament von fragwürdigen inneren Konflikten heimgesucht, die zu Spaltungen innerhalb der beiden Parteien geführt haben. Zwar haben sie auch abgesehen von ihren Anführern einige prominente Politiker*innen hervorgebracht. Diese konnten sich jedoch vor allem deshalb hervortun, weil sie im Parlament anwesend waren, während Wakartschuk und Sadowyj im politischen Alltag eher durch Abwesenheit auffielen.

Die Entscheidung der Meinungsforscher*innen, die geplanten Projekte von Rasumkow und Prytula in ihre Umfragen aufzunehmen, obwohl bisher nur wenig über deren politische Ziele bekannt ist, macht deutlich, dass die genannten Probleme weiterhin bestehen.

Die Mittelschicht stellt zudem nach wie vor lediglich einen relativ kleinen Teil der ukrainischen Gesellschaft und damit der Wahlberechtigten im Land dar. In der 2021 durchgeführten Umfrage des IRI gaben lediglich 12 Prozent der erwachsenen Ukrainer*innen an, dass ihr Einkommen „für fast alles ausreicht, aber nicht, um eine Wohnung zu kaufen“, und nur 2 Prozent gaben an, für gar nichts sparen zu müssen. Hinzu kommt, dass auch andere Parteien, die sich nicht speziell an die Mittelschicht richten, nichtsdestotrotz um ihre Stimmen konkurrieren. Die Chancen ukrainischer Parteien, die sich die Vertretung der Mittelschicht und ihrer Interessen auf die Fahnen geschrieben haben, sind also vor dem Hintergrund dieser Tatsachen einzuschätzen.


Kostiantyn Fedorenko ist Sozialwissenschaftler und Doktorand an der Berlin Graduate School of Social Sciences (BGSS) der Humboldt-Universität zu Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS).