Armeniens ungewisser Weg nach Europa
Armenien möchte sich politisch und ökonomisch stärker Europa zuwenden – doch der Weg dorthin ist umstritten. Während die Regierung eine engere Zusammenarbeit mit der EU anstrebt, sorgt dieses Thema in der Bevölkerung für Spannungen, vor allem unter jungen Leuten. Was bedeutet das für die Zukunft Armeniens?
Seit Armenien 2023 die Kontrolle über die umkämpfte Region Bergkarabach an Aserbaidschan verloren hat, wendet sich das Land zunehmend dem Westen zu. Die politische Distanzierung Jerewans vom Kreml erreichte im März 2025 einen neuen Höhepunkt, als die Mehrheit des armenischen Parlaments für den Start des möglichen EU-Beitrittsprozesses stimmte.
Armeniens Interesse an der EU ist zwar in jüngerer Zeit gewachsen, aber keineswegs neu. Bereits 2017 unterzeichneten beide Seiten ein umfassendes und verstärktes Partnerschaftsabkommen (CEPA), um die wirtschaftliche, rechtliche und politische Zusammenarbeit voranzutreiben. Im Jahr 2023 entsandte die EU eine zivile Beobachtermission auf die armenische Seite der Grenze zu Aserbaidschan, um die Lage vor Ort zu beobachten und darüber zu berichten.
Während die armenische Regierung ihre Außenpolitik breiter aufstellt und zwischen Russland und dem Westen balanciert, ist die Gesellschaft durch eine kontroverse Debatte über den richtigen Kurs gespalten – insbesondere wegen der wirtschaftlichen und militärischen Abhängigkeit Armeniens von Russland.
Die sich wandelnde Haltung der Armenier*innen
Jahrzehntelang betrachtete die armenische Öffentlichkeit Russland als den „wichtigsten Freund“ und die Schutzmacht ihres Landes. Diese Wahrnehmung begann sich nach dem zweiten Krieg um Bergkarabach mit Aserbaidschan im Jahr 2020 zu ändern. Daten aus einer Umfrage des „Caucasus Barometers” zeigen, dass die Popularität Russlands in der armenischen Bevölkerung gesunken ist, nachdem die russischen Friedenstruppen die Armenier*innen in Bergkarabach nicht schützen konnten und diese 2023 aus der Region fliehen mussten.
Derselben Umfrage zufolge sind die Armenier*innen auch deutlich desillusioniert von der Demokratie. Und das trotz einiger ermutigender Anzeichen der Demokratisierung, wie beispielsweise fortdauernde Reformen zur Korruptionsbekämpfung. Als Reporter ohne Grenzen seinen Pressefreiheitsindex 2025 veröffentlichte, schnitt Armenien überraschend gut ab und belegte Platz 34 von 180. Somit lag das Land vor EU-Ländern wie Italien, der Slowakei und Griechenland – und deutlich vor den Nachbarländern Georgien und Aserbaidschan.
In Bezug auf allgemeine Freiheiten stuft Freedom House Armenien jedoch nur als teilweise frei ein. Seit der Samtenen Revolution von 2018, einer Protestbewegung und friedlichen Machtübergabe an die Regierung von Premierminister Nikol Paschinjan, hat Armenien in dieser Hinsicht keine wesentlichen Fortschritte erzielt, auch wenn sich die Außenpolitik des Landes erheblich verändert hat und die Beziehungen zu Russland neu bewertet wurden.
Paschinjan möchte die Beziehungen zur EU stärken. Laut einer Umfrage des International Republican Institute (IRI) vom Juni 2025 unterstützt knapp die Hälfte der armenischen Bevölkerung eine EU-Mitgliedschaft. Gleichzeitig schließen sich jedoch Oppositionsparteien, die einflussreiche Armenisch-Apostolische Kirche sowie lokale Oligarchen mit engen wirtschaftlichen Verbindungen zu Russland zusammen. Die Spannungen zwischen der Regierung und der Kirche haben sich zuletzt verschärft. Dies könnte die Spaltung der Gesellschaft weiter verstärken.
Polarisierte Meinungen zur EU
In der Frage der EU-Mitgliedschaft polarisiert sich die armenische Gesellschaft zunehmend und die Zahl der Unentschlossenen nimmt entsprechend ab. Immer weniger Armenier*innen haben keine feste Meinung zur EU: Während 2019 noch 45 Prozent der Befragten sich nicht entscheiden konnten, ob sie der EU vertrauten, war dieser Anteil bis 2024 auf nur noch 27 Prozent gesunken.
Mit anderen Worten: Immer mehr Armenier*innen beziehen klare Stellung für oder gegen engere Beziehungen zur EU. Trotz wachsender Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft besteht weiterhin ein einflussreicher euroskeptischer Flügel.
Insgesamt befürworten 44 Prozent der armenischen Bevölkerung einen künftigen EU-Beitritt Armeniens, während 27 Prozent dagegen sind. Interessanterweise ist das Vertrauen in die EU deutlich geringer: Nur 30 Prozent der Armenier*innen vertrauen der Union, während 42 Prozent ihr misstrauen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass internationale Organisationen nicht auf die Vertreibung der Armenier*innen aus Bergkarabach im Jahr 2023 reagierten und dadurch das Vertrauen vieler Menschen verloren.
Die Daten der Caucasus Barometer-Umfrage von 2024 stützen nicht die gängige Annahme, dass junge Menschen in Armenien proeuropäisch sind. Stattdessen befürworten ältere Menschen eher einen EU-Beitritt. Yevgenya Jenny Paturyan, Soziologin an der American University of Armenia in Jerewan, betonte, dass es im Gegensatz zu vielen anderen postkommunistischen Staaten keine klassische Kluft zwischen Stadt und Land gibt. In diesen Staaten sind junge Stadtbewohner*innen und Studierende in der Regel proeuropäisch, während die Jugend auf dem Land eher konservativ und traditionalistisch ist. In Armenien ist es die gebildete, urbane Jugend in Jerewan, die dem EU-Beitritt kritisch gegenübersteht. Umgekehrt unterstützen ältere Menschen aus ländlichen Gebieten Paschinjan und seinen politischen Traum vom EU-Beitritt.
Aber weshalb ist das so? Eine der möglichen Erklärungen ist, dass jüngere, besser ausgebildete Menschen die potenziellen Vor- und Nachteile eines EU-Beitritts realistischer einschätzen. Ältere Menschen in ländlichen Gebieten sehen vor allem die großen wirtschaftlichen und politischen Chancen einer EU-Mitgliedschaft. Dass viele Menschen außerhalb Jerewans Paschinjan gewählt haben, mag ein weiterer Grund dafür sein, dass sie die proeuropäische Politik seiner Partei befürworten.
Ein weiterer Grund für den Euroskeptizismus unter jungen Menschen könnte in dem relativ hohen Anteil junger Armenier*innen liegen, die den Zusammenbruch der Sowjetunion als negatives Ereignis betrachten und ihr Vertrauen in die Kirche, das Militär und die Polizei setzen. Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2023 sowie der IRI Umfrageergebnisse 2024 schätzen junge Armenier*innen einerseits westliche Werte und vertreten liberale Positionen: 52 Prozent der armenischen Jugendlichen sind der Meinung, dass Demokratie die beste Regierungsform für ihr Land ist. Andererseits positionieren sie sich gegenüber Europa ablehnend und betrachten sich selbst nicht als Europäer*innen.
Die armenische Jugend ist geprägt von widersprüchlichen Wahrnehmungen der sowjetischen Vergangenheit. Je höher der Bildungsstand, desto eher wird der Zusammenbruch der Sowjetunion als positiv bewertet. Männliche Befragte sehen die Auflösung der Sowjetunion deutlich häufiger in einem negativen Licht als weibliche. Und junge Menschen in ländlichen Gebieten stehen diesem Ereignis eher negativ gegenüber als diejenigen in der Hauptstadt oder anderen städtischen Gebieten.
Ein schwieriger Balanceakt
Armenien verfolgt einen komplexen geopolitischen Balanceakt. Obwohl sich die Zusammenarbeit zwischen der EU und Armenien insbesondere seit dem Zweiten Bergkarabach-Krieg vertieft hat, ist das politische Ziel einer EU-Mitgliedschaft umstritten und vor allem symbolischer Natur. Angesichts der Isolation des Landes befürwortet Nikol Paschinjan nicht nur engere Beziehungen zur EU, sondern auch eine geostrategische Kooperation mit mehreren Partnern. Damit will er diversifizierte und ausgewogene Beziehungen zur EU und zu den USA aufbauen, ohne sich vollständig von der wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Macht Russlands zu lösen. Die Parlamentswahlen in Armenien im Juni 2026 werden ein wichtiger Test für die politische Strategie des Premierministers sein.
PD Dr. Tsypylma Darieva ist Sozialanthropologin und Senior Researcher am ZOiS, wo sie den Forschungsschwerpunkt „Migration und Diversität“ leitet. Zudem ist sie Mitbegründerin des ZOiS Caucasus Network.
Paul Wernig ist studentische Hilfskraft im Forschungsschwerpunkt „Migration und Diversität“ und ins ZOiS Caucasus Network eingebunden.