ZOiS Spotlight 15/2019

Nursultan Nasarbajew: Strategischer Rückzug auf Raten?

Von Beate Eschment 17.04.2019
Der ehemalige Präsident der Republik Kasachstan Nursultan Nasarbajew (Mitte) Aflo Co. Ltd. / Alamy Stock Foto

Am 9. Juni 2019 werden in Kasachstan vorgezogene Neuwahlen für das Amt des Präsidenten stattfinden. Das ist an sich nichts Neues, schon die beiden vorangegangenen Wahlen des Staatsoberhauptes in den Jahren 2011 und 2015 wurden zu einem früheren Zeitpunkt als gesetzlich vorgegeben abgehalten. Neu ist allerdings, dass der Wahlsieger mit Sicherheit nicht Nursultan Nasarbajew heißen wird. Für kasachstanische Verhältnisse ist das eine sensationelle Nachricht, die allerdings relativ wenig Widerhall bei Bevölkerung, Medien und sozialen Netzwerken hervorrief. Tatsächlich könnte es sich aber um eine weitere Stufe eines langfristig geplanten Rückzugs handeln.

Der Rücktritt, der keiner war

Als Nursultan Nasarbajew, der langjährige und bisher einzige Präsident Kasachstans, am 19. März 2019 seinen Rücktritt erklärte, waren die Reaktionen in der Bevölkerung heftig. Je nach politischem Standpunkt verwandelte sich die Erschütterung jedoch rasch entweder in Ernüchterung oder Erleichterung. Genaueres Hinsehen ergab nämlich, dass es sich zwar um einen Rücktritt vom Amt des Präsidenten, nicht aber von der Macht handelte.

Nasarbajew behält wichtige Ämter und Kompetenzen, allen voran den Vorsitz des Nationalen Sicherheitsrates, der nicht nur für Fragen der inneren und äußeren Sicherheit zuständig ist, sondern sich zum Beispiel auch mit Wirtschafts- und Sozialpolitik befasst. Daneben hat er als „Erster Präsident“ und „Führer der Nation“ – Titel, die im lebenslang zuerkannt wurden – unter anderem das Recht, an Regierungssitzungen teilzunehmen und mit eigenen politischen Initiativen aufzutreten. Dabei handelte es sich nicht um eine Usurpation von Machtbefugnissen im Moment des Rücktritts. Nasarbajew übernahm nur Aufgaben und Rechte, die ihm in den letzten Jahren gesetzlich zugebilligt worden waren.

In seiner Rücktrittsrede hatte Nasarbajew auch den Mann genannt, der ihn ersetzen beziehungsweise eher ihm zur Seite stehen sollte: der in der Verfassung für den Fall einer vorzeitigen Beendigung der Amtszeit des Staatsoberhaupts als Übergangspräsident vorgesehene Senatsvorsitzende. Der 65-jährige Kasym-Dschomart Tokajew ist ein noch in der Sowjetzeit sozialisierter Politiker mit großer vor allem diplomatischer Erfahrung: Er war 1999 bis 2002 Premierminister, 1994 bis 1999 und 2003 bis 2007 Außenminister Kasachstans, 2011 bis 2013 Generaldirektor des Büros der Vereinten Nationen in Genf und stellvertretender UN-Generalsekretär. Außerdem verfügt er über gute Kontakte nach Russland und China.

Tokajew gilt als Nasarbajew treu ergeben und bringt das auch seit seinem Amtsantritt immer wieder zum Ausdruck – gipfelnd in dem Vorschlag, die Hauptstadt Astana in Nur-Sultan umzubenennen. Eine Idee, die trotz ungewohnt heftiger Kritik aus der Bevölkerung und vieler spöttischer Kommentare aus dem Ausland in Rekordzeit realisiert wurde. Ein politisches Programm oder zumindest erste eigene Vorschläge, wie die drängenden Probleme des Landes angegangen werden könnten, gibt es dagegen noch nicht.

Doppelherrschaft

Nasarbajew ist offensichtlich gewillt, seine weiterhin bestehenden Befugnisse auch wahrzunehmen. Dabei steht ihm eine eigene, neu gebildete Verwaltung zur Seite, für die das Parlament eine Milliarde Tenge (ca. 2,33 Millionen Euro) bewilligt hat. Seit Anfang April empfängt er Minister und andere Würdenträger zu Gesprächen und leitete bereits eine Sitzung des Sicherheitsrates. Auf der offiziellen Website des Präsidenten ist er nach wie vor prominent vertreten.

Auch Tokajew hat die Amtsgeschäfte aufgenommen. Wie Nasarbajew empfängt er Minister zum Gespräch, reist im Land umher und hat sich am 3. April 2019 während seiner ersten Auslandsreise als Präsident in Moskau mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin beraten. In den Medien und der Öffentlichkeit stand er jedoch im Schatten seines großen Vorgängers.

Nasarbajew hat in der neuen Konstellation real die Kontrolle über alle wichtigen Entscheidungen – ohne dass er in der öffentlichen Wahrnehmung für die nicht geringen aktuellen Probleme Kasachstans verantwortlich erscheint, und kann sich somit noch stärker als bisher als Übervater der Nation darstellen. Sein juristischer Nachfolger muss sich dagegen ganz konkret mit aufgebrachten, kinderreichen Müttern, die die ihnen versprochenen staatlichen Sozialleistungen einfordern, wütenden Uigur*innen und Kasach*innen, die ein Eintreten Kasachstans für ihre in chinesische Umerziehungslager verbrachten Angehörigen fordern, oder einer verunsicherten, weil vom sozialen Abstieg bedrohten städtischen Mittelschicht auseinandersetzen. Eine Ausgangslage, die wenig geeignet erschien, um sich langfristig als erfolgversprechender Kandidat für eine Präsidentschaftswahl zu positionieren, die regulär erst 2020 stattgefunden hätte.

Vorgezogene Wahlen

Nur knapp einen Monat nach seiner Amtsübernahme kündigte Tokajew vorgezogene Neuwahlen an, die er als „absolut notwendig“, um „die gesellschaftlich-politische Eintracht“ zu bewahren und „jegliche Unsicherheit“ zu beenden, bezeichnete. Beobachter*innen gehen davon aus, dass das potentielle zukünftige Staatsoberhaupt von Seiten der Macht, das heißt der Regierungspartei Nur-Otan, nominiert wird. Die seit vielen Jahren diskutierte dynastische Lösung, die älteste Tochter Nasarbajews als Kandidatin zu nominieren, Dariga Nasarbajewa, scheint bei dieser Wahl ausgeschlossen. Sie hat durch einen Sprecher ihren Verzicht auf die Kandidatur erklären lassen. Weitere mögliche Interessenten, wie der Botschafter Kasachstans in Russland, Imangali Tasmagambetow, der Bürgermeister von Almaty, Bauyrschan Bajbek, oder der stellvertretende Vorsitzende des Komitees für staatliche Sicherheit, Samat Abisch, haben sich bislang noch nicht zu Wort gemeldet.[1] Nur-Otan wird ihren Kandidaten am 23. April 2019 nominieren; vieles spricht dafür, dass er Kasym-Schormat Tokajew heißen wird. Er profitiert von der Vorverlegung des Wahltermins und hat offensichtlich die Unterstützung Nasarbajews. In den letzten Tagen konnte man bereits beobachten, dass er in den staatlichen Medien stärker in Erscheinung tritt und auch selber versucht, aus dem Schatten Nasarbajews zu treten.

Alles nach Plan?

Ohne Zweifel kam der Amtsverzicht Nasarbajews Mitte März zu diesem Zeitpunkt völlig überraschend, der Schritt als solches war aber seit langem strategisch vorbereitet worden: juristisch, indem ihm die bereits genannten politischen Vollmachten für die Dauer seines Lebens erteilt und, nicht unwichtig, Immunität für sich und seine Familie garantiert wurden; personell, indem loyale Weggefährten wichtige Schlüsselpositionen erhielten; psychologisch durch die im Februar 2019 öffentlich verbreitete Entscheidung des Verfassungsrates, dass Nasarbajew das Recht auf Rücktritt zustehe.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch die vorzeitigen Wahlen bereits eingeplant waren. Anders als in vielen Medien dargestellt, hat Nasarbajew in seiner Rücktrittsrede nicht ausdrücklich erklärt, dass Tokajew sein Amt bis 2020 ausüben werde, sondern nur die entsprechende Verfassungsbestimmung zitiert. In jedem Fall erscheint die Vorverlegung der Wahlen als ein weiterer, vorsichtiger Schritt des Rückzugs des „Führers der Nation“, wobei die Entscheidung über die Person des neuen Präsidenten nicht so unwichtig erscheint, wie die öffentliche Reaktion vermuten lässt. Es steht zu hoffen, dass die Aufmerksamkeit der politischen Elite sich nach den Wahlen auf die dringend erforderlichen ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Strukturreformen richten wird.


[1] Stand 12.04.2019.


Beate Eschment ist Zentralasien-Expertin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS. Sie betreut als Redakteurin die Zentralasien-Analysen und forscht zu Identitätsbildung und Interessenvertretung der nationalen Minderheiten Kasachstans.