ZOiS Spotlight 29/2019

Der ukrainische Drahtseilakt

Von Balázs Jarábik 24.07.2019
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky nach den vorgezogenen Parlamentswahlen. imago images / Xinhua

Wolodymyr Selensky, ehemals Schauspieler und Comedian und jetzt Präsident der Ukraine, schreibt an einem neuen Drehbuch, dieses Mal über die Zukunft seines Landes. Nach seinem überwältigenden Sieg als politischer Neuling bei den Präsidentschaftswahlen im April hat Selenskys Partei Diener des Volkes nun bei den vorgezogenen Parlamentswahlen vom 21. Juli die absolute Mehrheit im ukrainischen Parlament errungen.

Diese Wahl bedeutet für die Ukraine eine Neuausrichtung. Es ist zu erwarten, dass Selensky nun entsprechend vorgehen und sich von der nationalistisch-patriotischen Agenda seiner Vorgänger entfernen wird. Damit würde ein Ende der Ära der oligarchischen Monopole (oder zumindest eine Begrenzung des Einflusses der Oligarchen auf die Politik) eingeläutet und eine Verbesserung der Lebensqualität der Bevölkerung Vorrang gegeben. Mit all der Macht und Verantwortung, die Selensky nun errungen hat, wird er unter großem Druck stehen, jetzt auch Ergebnisse zu liefern.

Eine erfolgreiche Marke

Selenskys Parlamentsmehrheit ist in der ukrainischen Geschichte beispiellos: Das bisher beste Ergebnis hatte 2007 mit 34,4 Prozent der Stimmen die Partei der Regionen des damaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch erreicht. Dieses Mal folgten die Wähler*innen der Botschaft von Selenskys Wahlkampf und stimmten für seine Partei Diener des Volkes und eben nicht für jene, die im Dienste der Oligarchen oder anderer Interessen stehen. Das ist ein klares Signal, dass die meisten Ukrainer*innen eine Neuausrichtung der ukrainischen Politik wollen und fordern, dass die neue herrschende Elite die Interessen der Bürger*innen an die erste Stelle rückt.

Diese „politische Marke“ Selenskys ist seit seinem Wahlsieg im April unverändert geblieben. Sie funktionierte derart gut, dass sogar die so genannten Euro-Optimisten, eine Gruppe von Abgeordneten, die von westlichen Medien als Reformer*innen bezeichnet werden, es nicht ins Parlament geschafft haben. Man wollte eher neue Gesichter als Reformpolitik.

Die Wahlen waren von heftigem Wettkampf geprägt. Von den 22 Parteien, die die insgesamt 2.746 Kandidaten nominiert hatten, werden nur fünf im neuen Parlament vertreten sein. Als neue Partei wird es neben Diener des Volkes allerdings nur die Stimme des Rockstars Swjatoslaw Wakartschuk geben. Die prorussische Oppositionsplattform – Für das Leben unter Führung von Wiktor Medwedtschuk, die Europäische Solidarität des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko und die Partei Vaterland der ehemaligen Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko werden allerdings eine immer noch beträchtliche Opposition durch die alten Eliten darstellen.

Die Wahlbeteiligung lag bei der diesjährigen Wahl mit 49,8 Prozent auf einem historisch niedrigen Niveau, sie war geringer als 2014 (51,9 Prozent) und lag weit unter der Rekordbeteiligung von 75,8 Prozent im Jahr 1994. Dies bedeutet allerdings keine verringerte Legitimität: Schließlich spiegelt es eher den demographischen Wandel im Land wieder, insbesondere die massenhafte Arbeitsmigration. Hinzu kam, dass ein Wahltermin mitten in der Sommerzeit wohl kaum eine höhere Wahlbeteiligung begünstigt. Selensky ist gleichwohl in der Lage gewesen, seine Wählerschaft zu mobilisieren, und das ist es, was in der Politik zählt.

Im Gegensatz hierzu haben es weder Poroschenko noch Wakartschuk vermocht, ihre Kernwählerschaft in der Westukraine hinter sich zu versammeln. Die Wahlbeteiligung war zwar im Westen und im Osten des Landes fast gleich groß, doch fiel sie im Osten erheblich höher aus als noch vor fünf Jahren. Und dies aus gutem Grund: Dort kam es zu einem echten Wettkampf zwischen prorussischen Kräften und dem russischsprachigen Selensky.

Herausforderungen für die neue Regierung

Oberste Priorität für die ukrainischen Wähler*innen hat der Frieden im ostukrainischen Donbass, wo die Ukraine seit April 2014 im Krieg mit Separatisten steht, die von Russland unterstützt werden. Selenskys Donbass-Politik wird auf den Widerstand nationalistischer Kreise im eigenen Land wie auch durch Russland treffen, und sie wird auf westliche Unterstützung angewiesen sein. Er wird über ein starkes politisches Mandat verfügen, mit dem er einen Wandel erwirken kann, soweit das in den Kräften Kiews steht. Allerdings dürfte jedes Übereinkommen zum künftigen Status des Donbass eine Änderung der ukrainischen Verfassung erfordern.

Weitere zentrale Bereiche werden die Wirtschaft und die Gesellschaftspolitik sein, wo ein Ausgleich und mehr Pragmatismus anstelle betont patriotischer Haltung vonnöten sind. Die Ukrainer*innen erwarten von Selensky eine Reduzierung des Preises, den das Land für die russischen Gasimporte zahlt, die nun über Europa erfolgen. Es dürfte in Kiew eine politische Entschlossenheit zur Bekämpfung der Korruption geben, und die unter Poroschenko entstandenen Antikorruptions-Institutionen könnten endlich effektiv eingesetzt werden.

Der Kampf gegen die Korruption wird allerdings ebenfalls eine eigene Neuausrichtung erfordern. Die Regierung unter Präsident Selensky wird eine Gratwanderung zwischen Sanktionen gegen Steuerhinterziehung (mit denen die großen Erwartungen der Öffentlichkeit erfüllt würden) und einer weiteren Verbesserung des Wirtschaftsklimas unternehmen müssen, um Investitionen sicherzustellen.

In ähnlicher Weise wird Selensky auch einen austarierten Ansatz zur Rolle des Staates finden müssen. So sind libertäre Überlegungen einiger seiner engeren Berater*innen – etwa zu einer verringerten Rolle der Geheimdienste oder der Generalstaatsanwaltschaft als Steuerungsinstrumente für die Wirtschaft – sicherlich berechtigt. Gleichzeitig braucht die Bevölkerung eine Umverteilung zur Bekämpfung der Armut; gleiches gilt für staatliche Investitionen in zentrale Bereiche der physischen und sozialen Infrastruktur.

Es wird allerdings auch weiterhin Beschränkungen geben. Die erste Aufgabe dürfte darin bestehen, die Geschlossenheit der größten Parlamentsfraktion zu gewährleisten, die die Ukraine je gesehen hat. Wichtige Pläne für eine Staatsreform – etwa eine Aufhebung der Straffreiheit für Parlamentsabgeordnete und Richter*innen, die Inkraftsetzung eines Gesetzes über lokale Referenden oder Änderungen im Amtsenthebungsgesetz – würden eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erfordern. Zudem ist Selensky kein Liebling der unabhängigen Medien in der Ukraine: Seit er auf der politischen Bühne auftauchte, haben Journalist*innen an seine Verantwortung erinnert.

Selenskys klarer Sieg bedeutet Risiken für die ukrainische Demokratie, doch gründete diese Demokratie auf einer Konkurrenz unter Oligarchen. Es wäre ein noch größeres Risiko, sollte der Präsident damit scheitern, die Funktionsweise von Staat und Regierung einem Wandel zu unterziehen. In der jetzigen Phase sollte der Westen ebenfalls pragmatisch sein, Selensky die Unterstützung geben, die dieser braucht (mit der nötigen Verantwortlichkeit seinerseits), und Befürchtungen patriotisch gesonnener politischer Kräfte weniger Beachtung schenken.


Balázs Jarábik ist Non-Resident Fellow bei Carnegie Endowment for International Peace, wo er sich in seiner Forschungsarbeit auf Mittel- und Osteuropa und insbesondere auf die Ukraine konzentriert.