ZOiS Spotlight 17/2021

Der Tag des Sieges: ein Jahr nach dem 75. Jubiläum

Von Félix Krawatzek 05.05.2021
Eine Frau im russischen Sotschi hält während des Unsterblichen Regiments das Porträt eines Verwandten, der im Zweiten Weltkrieg gekämpft hat. IMAGO / ITAR-TASS

Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie machte 2020 Russlands extrem ambitionierten Plänen für die Feier des 75. Jubiläums des Sieges im Zweiten Weltkrieg einen Strich durch die Rechnung. An den großen für den 9. Mai geplanten Paraden sollten ursprünglich auch einige westliche Staatsoberhäupter teilnehmen. Die Feierlichkeiten mussten jedoch auf den 24. Juni – den Tag der ersten Siegesparade 1945 – verschoben werden und fanden ohne offizielle Vertreter*innen westlicher Staaten statt. Die beliebten Gedenkmärsche des Unsterblichen Regiments konnten aufgrund der Pandemie nur online stattfinden.

Für die Russ*innen ist der Tag des Sieges nach wie vor das wichtigste geschichtliche Ereignis des 20. Jahrhunderts. Dieses Jahr fallen die Feierlichkeiten in eine Zeit, in der der Kreml zunehmend unter Druck gerät. International ist Russland mit einem US-Präsidenten Joe Biden konfrontiert, der gegenüber der russischen Führung entschiedener auftritt und sie offener kritisiert als sein Vorgänger. Im eigenen Land sind die Zustimmungswerte des russischen Präsidenten Wladimir Putin wieder auf einem historischen Tief von knapp über 60 Prozent angelangt, und das harte Vorgehen gegen Unterstützer*innen des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny macht deutlich, wie besorgt das Regime über die wachsende gesellschaftliche Unzufriedenheit ist.

Mit finanzieller Unterstützung der Daimler und Benz Stiftung führte das ZOiS im Januar 2021 eine Umfrage unter 2.100 Russ*innen im Alter von 18-65 Jahren durch, die in Städten mit mehr als 20.000 Einwohner*innen leben. Alters-, Geschlechts- und Wohnortsquoten stellten sicher, dass die Stichprobe die zugrundeliegende Bevölkerungsstruktur abbildete. In der Umfrage wurde erhoben, wie die Befragten den Zweiten Weltkrieg und den Zusammenbruch der Sowjetunion beurteilten. Außerdem umfasste sie Fragen zur Redefreiheit im Hinblick auf historische Fragestellungen und dazu, inwieweit historische Debatten gesetzlichen Bestimmungen unterworfen sein sollten.

Die Vorbereitungen zum Tag des Sieges 2021: weder Prunk noch Pomp

Die Vorbereitungen für den diesjährigen Tag des Sieges liefen weitestgehend geräuschlos ab. Exemplarisch ist hier unter anderem die Tatsache, dass auf vielen Internetseiten immer noch dieselben Slogans zu finden waren, die für das 75-jährige Jubiläum im vergangenen Jahr kreiert wurden: Die Internetseite der militaristischen Jugendbewegung Junarmija nutzt zum Beispiel immer noch dieselbe Kriegsanimation im Science-Fiction-Stil wie 2020. Anders als in den Jahren zuvor sprach Putin in seiner jährlichen Ansprache vor der russischen Föderationsversammlung im April weder über den Zweiten Weltkrieg noch über Geschichte im Allgemeinen. Zentrale Fragen hinsichtlich der diesjährigen Gedenkfeiern sind bisher noch nicht geklärt, insbesondere in welchem Maße Veranstaltungen wie der Gedenkmarsch des Unsterblichen Regiments offline stattfinden können.

Erste Ungewissheiten wurden im April aus der Welt geräumt, als der Kreml ankündigte, dass dieses Jahr keine ausländischen Staatsoberhäupter zu den Feierlichkeiten eingeladen werden. Pressesprecher Dmitrij Peskow erklärte die Entscheidung damit, dass dieses Jahr kein Jubiläumsjahr sei. Auf die Frage, ob westliche Staats- und Regierungschefs an den Feiern teilnehmen würden, reagierten die europäischen Staaten 2020 sehr unterschiedlich. Dieses Jahr hat die Pandemie den diplomatischen Druck verringert.

Konjunktur der Onlinegedenkfeiern

Die ZOiS-Umfrage zeigt, dass der Sieg im Zweiten Weltkrieg nach wie vor das Interesse von Russ*innen aller Altersklassen weckt: Die Feierlichkeiten sind ein beliebtes Gesprächsthema unter Freund*innen, Kolleg*innen und Verwandten. Von den Befragten über 35 Jahren gaben 67 Prozent an, dass sie zumindest manchmal über den Krieg gesprochen haben, während der Anteil bei den unter 35-Jährigen 60 Prozent betrug. Ein höherer Anteil war unter religiösen Menschen und denjenigen mit höherem Vertrauen in die staatlichen Institutionen Russlands zu beobachten.

Der Bekanntheitsgrad der im letzten Jahr stattgefundenen Onlineveranstaltungen ist erstaunlich hoch. Mehr als 80 Prozent der Befragten hatten von der Onlineversion des Unsterblichen Regiments gehört. Diese ermöglichte es den Menschen, virtuell neben ihren Vätern, Großvätern und Urgroßvätern zu marschieren. Andere Aktionen wie „Fenster des Sieges“ und „Gesichter des Sieges“ waren annähernd einem Drittel der Befragten bekannt, beim Hashtag #МыВместе („Wir gemeinsam“) waren es 19 Prozent (Abbildung 1).

Geringer war der Anteil der Befragten, die an einer der Aktionen teilgenommen hatten: Knapp 35 Prozent der Befragten nahmen an online durchgeführten Veranstaltungen zum Unsterblichen Regiment teil, bei den Fenstern des Sieges waren es knapp 13 Prozent. Bei anderen Veranstaltungen ergaben sich geringere Anteile. Onlinegedenkfeiern hätten das Potenzial, die jüngere Generation und diejenigen Menschen zu erreichen, die pompösen, militaristischen Events mit Skepsis begegnen. Die bisherigen Onlineveranstaltungen haben das jedoch nicht geschafft: Unter den Befragten wiesen jüngere Menschen eine geringere Wahrscheinlichkeit auf, von den Veranstaltungen gehört oder an ihnen teilgenommen zu haben.

Abbildung 1: Wissen von und Teilnahme an Onlinegedenkfeiern

Nichtsdestotrotz hatten einer Befragung des staatlichen Umfrageinstituts VTsIOM zufolge mehr als 60 Prozent der Menschen einen positiven Eindruck von den Onlineveranstaltungen, und wünschten sich, dass sie weiter fortgesetzt würden. Eine weitere Umfrage ergab, dass 60 Prozent der russischen Bevölkerung sich die Siegesparade letztes Jahr angeschaut hatten und sie ihnen größtenteils gefallen hatte.

Beurteilungen des Zweiten Weltkriegs

In den öffentlichen und politischen Debatten in Russland wird ein heroisches und erhabenes Bild des Krieges gezeichnet, das in der Bevölkerung Verbreitung finden soll. Zentraler Bestandteil dieses Narratives ist Putins Behauptung, dass die Sowjetunion am Ausbruch des Krieges keinen Anteil gehabt habe: Sie habe den Nichtangriffspakt mit Nazideutschland nur unterzeichnet, nachdem Frankreich und Großbritannien dasselbe getan hätten, und wäre in Polen nur einmarschiert, nachdem das Land bereits die Kontrolle über seine Streitkräfte verloren hätte. Mithilfe solcher Behauptungen wird die Tatsache heruntergespielt, dass die Sowjetregierung mit dem Dritten Reich kooperierte, insbesondere als sie 1939 das geheime Zusatzprotokoll des Molotow-Ribbentrop-Pakts unterschrieb, das eine Aufteilung des polnischen Territoriums zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion vorsah.

Eine überwältigende Mehrheit von nahezu 80 Prozent der Russ*innen in unserer Stichprobe sahen die Verantwortung für den Ausbruch des Krieges hauptsächlich auf Seiten Nazideutschlands. Die damit heruntergespielte Mitverantwortung der Sowjetunion folgt der Erinnerungspolitik der russischen Regierung und spiegelt auch die allgegenwärtige Rhetorik des Krieges wider, um Gegner*innen zu diskreditieren.

Mit nur 70 Prozent der unter 35-Jährigen fiel der Anteil derjenigen, die der Meinung waren, Nazideutschland trage die alleinige Verantwortung für den Kriegsausbruch, unter jungen Menschen geringer aus, obwohl auch diese das offizielle Kriegsnarrativ nicht grundsätzlich infrage stellen. Männer neigten deutlich stärker zu der Auffassung, dass ausschließlich Deutschland verantwortlich gewesen sei. Das Gleiche gilt für Befragte mit einem hohen Vertrauen in die staatlichen Institutionen. Bemerkenswert ist jedoch, dass Bildungsgrad, Wohnort und Vermögen keinen erkennbaren Einfluss auf die Antworten der Befragten hatten. Daran zeigt sich, in welchem Maße sich die öffentliche Meinung in Russland mit Elitendiskursen deckt.

Mit der Frage nach der Verantwortung für den Krieg hängt die Frage zusammen, wer den stärksten Beitrag zum Sieg leistete (Abbildung 2). Hier zeigte sich ein ähnliches Bild: Männer und ältere Menschen nannten häufiger ausschließlich die Sowjetunion. Markant war bei dieser Frage der Generationenunterschied: Während nur 60 Prozent der unter 35-Jährigen der Meinung waren, der Sieg sei hauptsächlich der Sowjetunion zu verdanken, waren es bei den über 35-Jährigen 75 Prozent.

Abbildung 2: Meinungen dazu, wer den wichtigsten Beitrag zum Sieg im Zweiten Weltkrieg leistete

Bei der diesjährigen Siegesparade und anderen Aktionen, die größere Teile der russischen Bevölkerung einbeziehen, werden Online- und Offlineformate miteinander kombiniert. Ein großer Anteil der Russ*innen findet die Veranstaltungen gut, da die offizielle Darstellung mit gesellschaftlich geläufigen Interpretationen des Krieges übereinstimmt. Unterschiede sind zwischen den Generationen zu erkennen. Es ist allerdings zu früh, um zu beurteilen, ob diese Unterschiede die öffentliche Wahrnehmung der Geschichte langfristig verändern werden. Da die Verteidigung des eigenen Geschichtsbilds zu einem der zentralen Ziele des russischen Staates geworden ist, werden abweichende Meinungen zudem immer weniger geduldet.


Félix Krawatzek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZOiS, wo er den Forschungsschwerpunkt „Jugend in Osteuropa“ leitet.