Expert*innenstimme

Russischer Truppenaufbau an der Grenze zur Ukraine

Von Gwendolyn Sasse 14.04.2021

Russland hat seine militärische Präsenz in der Nähe des ostukrainischen Donbass und auf der annektierten Krim stark ausgebaut. Gwendolyn Sasse erklärt, was die jüngsten Entwicklungen für den Konflikt in der Ostukraine bedeuten und wie die Lage der Menschen in den umkämpften Gebieten ist.

Was bedeuten die verstärkten russischen Truppenaktivitäten entlang der russisch-ukrainischen Grenze für den Minsk-Prozess?

Mit der Verstärkung seiner militärischen Präsenz an der russisch-ukrainischen Grenze sowie auf der Krim demonstriert Russland nicht nur seinen politischen Einfluss in der Ukraine, sondern auch den Anspruch auf die Rolle einer Großmacht in der internationalen Politik. Konkret geht es um das Austesten des politischen Spielraums in Bezug auf die Ukraine, die EU und die neue US-Administration. Eine bewusste militärische Eskalation wäre auch für Russland mit wirtschaftlichen und politischen Kosten verbunden, doch die Gefahr einer nur schwer kontrollierbaren Reaktion der Ukraine auf eine als Provokation interpretierte Handlung steigt. Der Minsk-Prozess stockt seit Jahren und wird weiter geschwächt. Unter den jetzigen Bedingungen wird er noch nicht einmal humanitäre Fragen behandeln können.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell und der amtierende US-Präsident Joe Biden haben der Ukraine im Konflikt mit Russland Unterstützung zugesagt. Auch der deutsche Außenminister Heiko Maas äußerte sich besorgt. Welche Bedeutung haben diese Statements angesichts der angespannten Lage in der Ostukraine?

Die EU, Deutschland und die USA werden von Russlands Politik gezwungen, Stellung zu beziehen. Die rhetorische Abmahnung Russlands gehört inzwischen zum Tagesgeschäft der deutschen und EU-Politik. Die Ausdehnung der bestehenden EU-Sanktionen oder die Androhung eines Stopps des Nord Stream 2-Projekts stehen allerdings noch nicht explizit auf der Tagesordnung. US-Präsident Joe Biden hat der Ukraine auch weitere Unterstützung in der Form von militärischer Ausrüstung und Ausbildung zugesichert. Die größeren geopolitischen Fronten werden erneut zum Ausdruck gebracht, während die Unsicherheit und Restriktionen im Alltag für die Menschen in der Kriegsregion weiter zunehmen.

Wie schätzen Sie auf Basis Ihrer Forschung die aktuelle Lage der Menschen in der Ostukraine ein?

Die Waffenstillstandslinie hat historisch gewachsene gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und administrative Strukturen durchtrennt. Der Alltag auf beiden Seiten der sogenannten Kontaktlinie ist äußerst schwierig. Die Menschen richten sich so gut es geht in einer neuen Art von Normalität ein, die ein lange andauernder Krieg mit sich bringt. Aus Befragungen, die wir am ZOiS und in Kooperation mit internationalen wissenschaftlichen Partnern durchgeführt haben, wissen wir, dass das Vertrauen in die lokalen und nationalen politischen und administrativen Institutionen auf der von Kiew kontrollierten Seite extrem gering ist. Kiew erscheint als weit entfernt. Durch Zugangsbeschränkungen und politischen Druck ist es auf der nicht von Kiew kontrollierten Seite schwierig, einen systematischen Eindruck vom Alltag und ein Stimmungsbild der Bevölkerung zu bekommen. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Preise sind vergleichsweise hoch, die medizinische Versorgung ist minimal und die von Moskau gestützten lokalen Behörden sind überfordert bzw. nicht funktionsfähig. Aus ZOiS-Befragungen per Telefon wissen wir, dass hier etwa die Hälfte der Bevölkerung persönliche Kontakte in den anderen Teil des Donbass hat und häufig oder gelegentlich über einen der fünf Kontrollpunkte in den von Kiew kontrollierten Teil geht, sei es um Rentenzahlungen zu kassieren, Handel zu treiben oder soziale Kontakte zu pflegen. Diese Menschen erhalten sich der Umfragen zufolge ihr Bild von einer Re-Integration in den ukrainischen Staat. Diejenigen, die die Kontaktlinie nicht überqueren, scheinen hingegen entweder weniger an den Statusfragen interessiert oder zunehmend gen Russland orientiert zu sein – ob aus Überzeugung oder Notwendigkeit ist schwer zu sagen.

Expertin

Wissenschaftliche Direktorin
Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin