Expert*innenstimme

Zuspitzung der Ukraine-Krise und Reaktionen der internationalen Politik

Von Gwendolyn Sasse 10.01.2022

Aktuell finden Gespräche zwischen den USA und Russland in Genf statt, die von der Möglichkeit eines militärischen Angriffs auf die Ukraine im Zusammenhang mit einem massiven Truppenaufbau Russlands nahe der ukrainischen Grenze forciert wurden. Am Mittwoch folgt eine OSZE-Sitzung und am Donnerstag der NATO-Russland-Rat. Ende der Woche sind Sitzungen der EU-Außenminister*innen sowie gemeinsame Gespräche mit den EU-Verteidigungsminister*innen geplant. ZOiS-Direktorin Gwendolyn Sasse hat für uns den Durchblick.

Was ist von der Fülle internationaler Gespräche diese Woche zu erwarten? Was sind die Hauptziele der beteiligten Akteur*innen?

In dieser eng getakteten Woche kommt den heutigen Verhandlungen zwischen Vertreter*innen der USA und Russlands in Genf eine besondere Bedeutung zu. Sie werden den Ton für das darauffolgende Treffen des NATO-Russland-Rats und der OSZE-Russland-Gespräche bestimmen.  Mit dem Zustandekommen dieser Gespräche hat Russlands Präsident Putin eines seiner Ziele schon erreicht: mit den USA auf Augenhöhe und für alle Welt sichtbar bilateral zu verhandeln. Russland fordert darüber hinaus explizite Sicherheitsgarantien von den USA und der NATO, die die weitere Osterweiterung der NATO, insbesondere die Mitgliedschaft der Ukraine, verhindern und die militärische Präsenz der USA und der NATO in Osteuropa begrenzen soll. Die Hauptziele der USA sind eine Deeskalation der Situation an der russisch-ukrainischen Grenze sowie die Fortsetzung des im Juni 2021 gestarteten strategischen Sicherheitsdialogs mit Russland. Kurz vor den Verhandlungen hat Russland auf Maximalpositionen beharrt und einen möglicherweise raschen Abbruch der Gespräche ins Spiel gebracht. Auch die USA haben vor zu hohen Erwartungen an diese Verhandlungen gewarnt.

Die USA und die NATO werden sich die Entscheidung über neue NATO-Mitglieder nicht von Russland abnehmen lassen. Sie haben jedoch einen Verhandlungsspielraum in Bezug auf die militärische Präsenz in Teilen Osteuropas und beiderseitig reduzierte Militärmanöver in Grenzregionen aufgezeigt. Um diesen Verhandlungsspielraum zu nutzen bzw. aufzubauen, sollten Russland die Konsequenzen eines militärischen Angriffs auf die Ukraine deutlich kommuniziert werden. Hierbei sind neben weiterer militärischer Unterstützung für die Ukraine v.a. weitreichende Wirtschaftssanktionen im Gespräch, darunter ein Moratorium für Nord Stream II und der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Zahlungssystem. Eine klar definierte Abfolge von US- und EU-Sanktionen als Antwort auf konkrete Schritte Russlands wäre eine notwendige Botschaft an den Kreml. Ob dieses Signal eindeutig und als kohärente US-EU-Position übermittelt werden kann, ist jedoch ungewiss. Im bestmöglichen Fall gelingt diese Woche eine zumindest temporäre Deeskalation im Russland-Ukraine Konflikt.

Der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze lässt weiterhin befürchten, dass Russland konkrete Pläne zu einem Angriff auf die Ukraine hat. Wie realistisch ist ein solches Bedrohungsszenario derzeit?

Es ist davon auszugehen, dass dem Kreml die Kosten eines erneuten Angriffs auf die Ukraine bewusst sind. Die modernisierte und mobilisierte ukrainische Armee würde den russischen Truppen mehr Schlagkraft entgegensetzen als bei der Krim-Annexion und dem Ausbruch des Kriegs in der Ostukraine 2014. Auch wenn die ukrainische Armee letztendlich unterlegen wäre, würde es zu einem länger andauernden Krieg mit Opfern auf beiden Seiten kommen. Auch mit Widerstand von Teilen der ukrainischen Bevölkerung ist zu rechnen. Ein weiterer russischer Angriff auf die Ukraine ist in Russland bei weitem nicht so populär wie die Krim-Annexion, und Putin braucht auch weiterhin hohe Beliebtheitswerte. Hinzu kämen die Konsequenzen neuer westlicher Sanktionen, die insbesondere den russischen Finanzsektor treffen würden.

Einfluss auf die Ukraine hat der Kreml auch ohne ein weiteres militärisches Vorgehen. Die Möglichkeit, jederzeit destabilisierend wirken zu können, reicht dafür aus. Die Ukraine ist jedoch von Putin zu einer Frage seiner Hinterlassenschaft stilisiert worden, so dass eine Eskalation nicht auszuschließen ist. Ein Risiko liegt auch in der Möglichkeit, dass sich die Situation an der russisch-ukrainischen Grenze verselbstständigt. Ein Zwischenfall oder auch ein lokaler Kontrollverlust könnte eine Eskalationsspirale in Gang setzen, auf die Russland vorbereitet ist.

Welche Aspekte des Konflikts finden in der Öffentlichkeit momentan zu wenig Beachtung?

Es ist durchaus möglich, dass Putin nur einen Anschein von Verhandlungswillen vermittelt hat, um dann ein vorhersehbares Scheitern der Gespräche auf die USA abzuschieben und möglicherweise sogar als Legitimation für weitere militärische Schritte in der Ukraine zu nutzen. Während Russland seine Forderungen klar und in aller Öffentlichkeit formuliert hat, sind die Position der USA und der NATO sowie der EU im Hintergrund diffuser. Dies macht die Verhandlungen flexibler, aber möglicherweise auch weniger effektiv und schürt die Sorge in der Ukraine, dass ihre Interessen zur Verhandlungsmasse werden.

Auch die Verknüpfung mehrerer paralleler Krisen verdient Aufmerksamkeit. Putin ist zwar stark auf die Ukraine konzentriert, aber seine Unterstützung für den autoritären Machthaber Lukaschenka in Belarus und die militärische Unterstützung für den kasachischen Präsidenten Tokajew signalisieren sein Streben nach einer neuen, von militärischer Präsenz untermauerten Präsenz in den Nachbarländern, die schon zu Sowjetzeiten von besonderer strategischer Bedeutung waren.

Expertin

Wissenschaftliche Direktorin
Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin