Expert*innenstimme

Proteste in Kasachstan

Von Beate Eschment 05.01.2022

Am 2. Januar 2022 brachen ausgehend vom Westen Kasachstans Proteste aus, die sich auf die großen Städte des Landes ausbreiteten und bereits den Rücktritt der Regierung zur Folge hatten. Aus Almaty wurden bürgerkriegsähnliche Szenen übermittelt, bevor die Internetverbindungen am 5. Januar mittags gekappt wurden. Anlass der Demonstrationen waren gestiegene Preise; inzwischen stehen aber politische Forderungen im Vordergrund. Zentralasienkennerin Beate Eschment liefert in der ersten Ausgabe der ZOiS-Expert*innenstimme 2022 eine Einschätzung zur Lage im Land und weiterer Perspektiven für die Proteste.

Wo liegt der Ursprung der Proteste? Warum gehen die Menschen in Kasachstan jetzt auf die Straße?

Die Proteste begannen am 2.1.2022 in der Kleinstadt Zhanaozen im rohstoffreichen, aber von der Politik vernachlässigten Westen des Landes. Anlass war die Verdoppelung des Preises für LNG (Flüssiggas-Autotreibstoff), sehr schnell fanden aber auch Demonstrationen in anderen Städten statt und es ging nicht mehr um Treibstoffpreise, sondern den endgültigen Rückzug des Ersten Präsidenten Nasarbajew aus der Politik, eine neue Verfassung und einen Regimewechsel. Darin kommt die lange aufgestaute Unzufriedenheit vieler Menschen in Kasachstan mit einer korrupten Elite, starken sozialen Spaltungen und sinkendem Lebensstandard zum Ausdruck, aber auch der bislang enttäuschten Hoffnung auf politische und ökonomische Veränderungen nach der Ära Nasarbajew (der im März 2019 zurückgetreten ist, aber im Hintergrund nach wie vor die Geschicke des Landes beeinflusst).

Wie ist die Reaktion des Regimes auf die Proteste? Wie gefährlich sind die Proteste für die Stabilität des Regimes?

Die Führung des Landes scheint völlig überrumpelt und von den Ereignissen getrieben: Nach erstem Zögern senkte die Regierung den LNG-Preis sogar unter das Ausgangsniveau; wie von den Demonstrierenden gefordert, ist die Regierung zurückgetreten und Nasarbajew hat das letzte einflussreiche Führungsamt, das er noch hatte – den Vorsitz im Nationalen Sicherheitsrat – an seinen Nachfolger verloren. Die Sicherheitskräfte sollen mit großer Härte vorgegangen sein, konnten aber zum Beispiel die Erstürmung des Akimats (Rathauses) der Stadt Almaty nicht verhindern. Nach derzeitigem Stand (5.1.22, 16 Uhr) scheint die Stabilität des Regimes wie des Landes in Gefahr.

In den Medien wird gemutmaßt, dass sich die Proteste in Kasachstan noch weiterentwickeln könnten und es zu ähnlichen Massenmobilisierungen wie in Belarus 2020 und in der Ukraine 2013/14 kommen könnte. Ist das eine realistische Perspektive?

Zunächst einmal ist erstaunlich, wie schnell sich die Proteste in Kasachstan verbreitet haben und wie viele Menschen daran teilnehmen, ohne dass eine Führung(sfigur) identifizierbar wäre. Die weitere Entwicklung ist schwer vorauszusagen, viel hängt davon ab, wie sich die Führung des Landes verhält. Es hat in den letzten Jahren bereits mehrfach größere landesweite Protestbewegungen gegeben, so 2016 gegen eine Änderung des Bodengesetzes, 2019 in Reaktion auf den orchestrierten Präsidentenwechsel, eine solche Wucht haben sie aber zuvor noch nie entfaltet.

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