Pressemitteilung

Die russische Verfassung wird 25

10.12.2018

Am 12. Dezember 1993 begann für die Russische Föderation eine neue Ära: In einem Referendum stimmte die Bevölkerung mehrheitlich für eine neue Verfassung und damit für die Abkehr von der sozialistischen Staatsordnung. Erstmals waren in dem Gesetzestext umfangreiche Individualschutzrechte verankert. „Diese Grundrechte der Bürger*innen werden jedoch häufig in der Rechtsanwendung, durch neue Gesetze oder Gesetzeserweiterungen ausgehöhlt“, sagt Dr. Christian Schaich, Rechtswissenschaftler und administrativer Geschäftsführer des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS).

Beschneidung der Grundrechte

Ein deutliches Beispiel ist die Versammlungsfreiheit, die durch eine Gesetzesnovelle aus dem Jahr 2012 praktisch außer Kraft gesetzt wurde. So verlangt das Gesetz seinem Wortlaut nach zwar lediglich die Anmeldung einer Versammlung. Es verknüpft diese und die Durchführung der Versammlung jedoch mit peniblen Verfahrensvorschriften und Informationspflichten. Jeder Verstoß gegen diese Vorschriften führt zu einem Verbot und gegebenenfalls der Auflösung der Versammlung – verbunden mit hohen Bußgeldern für die Veranstalter. Öffentliche Kundgebungen, Protest und Aktivismus werden dadurch um ein Vielfaches erschwert. „Diese repressive Handhabung des Versammlungsrechts wird durch das russische Verfassungsgericht – in Verkennung des hohen Gutes der Versammlungsfreiheit – mitgetragen“, so Schaich.

Aber auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens werden die verfassungsrechtlich gewährten Grundrechte durch einfaches Recht beschnitten. So sieht das Mediengesetz umfangreiche Registrierungsvorschriften für Medienunternehmen vor und ermöglicht auch die Rücknahme der Registrierung, was eine unabhängige journalistische Arbeit erheblich erschwert. Dies ist eine bedenkliche Einschränkung der grundrechtlichen Medienfreiheit, Art. 29 Abs. 4. Das an gleicher Stelle postulierte Recht auf freien Zugang zu Informationen wird dadurch ausgehöhlt, dass die Präsidialexekutive mehr und mehr Medienunternehmen, vor allem im Bereich der elektronischen Medien, durch ihr nahestehende Unternehmen aufkaufen und kontrollieren lässt.

Machtfülle des Präsidenten

Von Beginn an haftete der Verfassung zudem ein entscheidender Makel an: Der Präsident wurde mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet. „Diese Machtfülle stellt eine bedeutende Gefahr für die wichtigste Gewähr von Freiheit und Menschenrechten dar, nämlich die Gewaltenteilung“, sagt Schaich. Die überragende Stellung des russischen Präsidenten ist das Ergebnis eines Machtkampfes zwischen dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin und dem Volkskongress. Im Verlauf der Auseinandersetzung löste Jelzin den Volkskongress auf, der einen Verfassungsentwurf vorgelegt hatte. Stattdessen legte Jelzin einen eigenen Entwurf vor, der im Gegensatz zu dem die Legislative stärkenden Entwurf des Volkskongresses einen unverhältnismäßig starken Präsidenten vorsah – und sich schließlich in wesentlichen Punkten durchsetzte.

Die Verfassung in der Rechtswirklichkeit

Ist die russische Staatsordnung also nur negativ zu bewerten? „Nein“, meint Schaich. „Die Verfassung ist die erste auf russischem Boden, die ihren Namen auch verdient und nicht überwiegend deklaratorischen Charakter hat.“ Auf der Positivseite zeigt sich etwa die Aufwertung der Judikative mit einem Verfassungsgericht und einem Obersten Gericht. Kritisch zu bewerten ist dagegen, dass das Oberste Wirtschaftsgericht abgeschafft wurde und es damit keine eigene Wirtschaftsgerichtsbarkeit mehr gibt.

Als Föderation verfügt Russland über autonome Bezirke, die in der Verfassung als gleichberechtigte Subjekte sogar namentlich aufgeführt werden – ein ungewöhnlicher Umstand. Was jedoch fehlt ist eine Finanzverfassung. Damit wird den Subjekten faktisch die finanzielle Autonomie aberkannt. „Wirft man einen Blick darauf, wie sich die Verfassung in der Realität bewährt, so zeigt sich also ein Bild sowohl mit Licht als auch mit Schatten“, sagt Schaich.


Christian Schaich ist Rechtswissenschaftler und administrativer Geschäftsführer des ZOiS. Er promovierte zu einem Thema des russischen Verwaltungsrechts an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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