Wie die Pflege in der Gesundheitskrise der Ukraine übersehen wird
Zwischen 2015 und 2022 sank die Zahl der Pflegekräfte in der Ukraine um fast ein Drittel. Zu den Gründen für diesen Rückgang zählen niedrige Löhne, schwierige Arbeitsbedingungen und die Abschaffung von Normen zur Arbeitsbelastung. Wie konnte die Gesundheitsreform in der Ukraine die Pflege derart vernachlässigen?

Iryna (Name geändert) ist eine 49-jährige Pflegekraft in einer Kinder-Notaufnahme und einer Abteilung für Infektionskrankheiten eines Krankenhauses in der Zentralukraine. Trotz ihrer 28-jährigen Berufserfahrung verdient sie nur 14.000 Hrywnja (298 Euro) im Monat für eine Vollzeitstelle. Sie beschreibt ihre Situation folgendermaßen:
„Ich weine sehr oft, wahrscheinlich wegen des Stresses und des Cortisols [...] Es ist eine Art Verzweiflung, wissen Sie, es gibt diesen psychologischen Begriff ‚Frustration‘ – das ist ein negatives Gefühl, das man empfindet, wenn man ein Ziel nicht erreicht. Nach 28 Jahren sollte jeder etwas vorzuweisen haben. Und mir wird klar, dass diese 28 Jahre [für mich] verloren sind. Sie scheinen eine kluge Person zu sein und Sie leisten sehr nützliche Arbeit, aber irgendetwas fühlt sich einfach falsch an. Ah, Burnout. Ja. Das ist das Wort, nach dem ich gesucht habe. Emotional und körperlich.“
Um die Arbeit und das Leben ukrainischer Pflegekräfte inmitten des russischen Angriffskrieges und der Strukturreformen im ukrainischen Gesundheitswesen zu untersuchen, führten die Autorin und zwei weitere Soziolog*innen zusammen mit dem Verband für Pflegefachkräfte „Be Like Us Medical Movement“ 48 ausführliche Interviews mit Pflegepersonal im Jahr 2024. Die Studie zeigt, wie sich die Deregulierung des Pflegebereichs im Zuge der Reform auf Pflegekräfte aller Fachrichtungen, Regionen und Einrichtungen ausgewirkt hat, mit negativen Folgen für deren Arbeitsalltag, Arbeitsbelastung und Privatleben. Die Ergebnisse deuten außerdem darauf hin, dass die Wiederherstellung nationaler Standards bei der Arbeitsbelastung entscheidend ist, um den Zusammenbruch der ukrainischen Gesundheitsinfrastruktur zu verhindern.
Gesundheitsreform
Im Jahr 2016 startete die Ukraine eine Gesundheitsreform, die die Finanzierungsregeln für öffentliche Gesundheitseinrichtungen und deren Verwaltungsmodell änderte. Aufsehenerregende Maßnahmen wie die Zusammenlegung von Krankenhäusern und die Schließung von Gesundheitseinrichtungen führten in einigen Städten sogar zu öffentlichen Protesten. Ein weiterer kritischer Aspekt der Reform – ihre Auswirkungen auf Pflegekräfte – wurde jedoch weitgehend übersehen.
Im Rahmen der Reform wurden auch nationale Arbeitsbelastungsstandards für Pflegekräfte abgeschafft. Obwohl diese Standards zuvor nur uneinheitlich durchgesetzt worden waren, führte ihre Abschaffung zu Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Zuständigkeiten von Pflegekräften in staatlichen und kommunalen Gesundheitseinrichtungen – eine Entwicklung, die wir in unserer Forschung als Deregulierung der Pflege bezeichnen.
Im Jahr 2020 wurde in einer zweiten Stufe der Reform ein neuer Finanzierungsmechanismus eingeführt. Krankenhäuser erhielten fortan Gelder auf der Grundlage sogenannter Pflegepakete, die die Anzahl und Art der erbrachten Leistungen umfassen. Diese Pakete enthalten spezifische Anforderungen an Ärzt*innen und an medizinische Geräte, bieten jedoch kaum oder gar keine Vorgaben für die Personalbesetzung von Pflegefach- und Assistenzkräften. Diese Regelungslücke hat es Krankenhäusern, die unter finanziellem Druck stehen, ermöglicht, das Pflegepersonal erheblich zu reduzieren, wodurch sich die Arbeitsbelastung der verbleibenden Mitarbeiter*innen erhöht hat.
Steigende Arbeitsbelastung
Auf diese Weise erhielten die Krankenhäuser die Autonomie, selbst zu entscheiden, wie viele Pflegekräfte sie einstellen und wie viel Arbeit diese zu leisten haben. Angesichts knapper Budgets bedeutete dies oft, dass mit weniger Personal mehr Arbeit zu bewältigen war, was zu einer Zunahme von Überstunden führte. Ein weitaus häufigeres und heimtückischeres Problem, insbesondere für Pflegekräfte in stationären Einrichtungen oder in der Notfallversorgung, war jedoch die intensivere Arbeit. Dieser Trend manifestierte sich nicht nur in einer höheren Anzahl an Patient*innen pro Pflegekraft, sondern auch in der Ausweitung ihres Aufgabenbereiches. So äußerten sich Notfallkräfte beispielsweise frustriert darüber, dass sie Krankenwagen waschen mussten, weil ihre Arbeitgeber*innen kein medizinisches Hilfspersonal eingestellt hatten.
Anekdotische Berichte verdeutlichen die Arbeitssicherheitsrisiken solcher Multitasking-Aufgaben. Eine der von uns befragten Pfleger*innen berichtete, dass ihr Krankenhaus viele Pflegehelfer*innen und technisches Personal entlassen und eine Firma mit der Reinigung der Krankenzimmer beauftragt hatte. Die Mitarbeiter*innen dieser Firma übernahmen jedoch keine täglichen Hygieneaufgaben wie das Wechseln von Bettpfannen. So mussten die zuvor von Pflegehelfer*innen übernommenen Aufgaben von den Pflegekräften zusätzlich zu ihren eigentlichen Aufgaben wie Injektionen, die hohe Hygienestandards erfordern, übernommen werden.
In Interviews mit Pfleger*innen in psychiatrischen Einrichtungen und Suchtbehandlungszentren war es nicht ungewöhnlich, dass nachts nur eine Fachkraft in Begleitung einer Assistenz für die gesamte Station zuständig war. Unsere Befragten berichteten auch von unzureichender physischer Sicherheit am Arbeitsplatz, insbesondere während der Nachtschichten.
Tarifverträge hätten Pflegekräfte davor schützen müssen, ohne zusätzliche Bezahlung Aufgaben außerhalb ihrer Stellenbeschreibung zu übernehmen. In der Praxis konnten diese Vereinbarungen jedoch ignoriert und Pflegekräfte sogar daran gehindert werden, diese einzusehen. Es scheint, dass das Pflegepersonal oft wenig Einfluss auf den Inhalt der Dokumente hat und kaum weiß, was darin steht.
Ein belastender Teufelskreis
Die zunehmende Arbeitsbelastung und der erhebliche emotionale Stress sind wesentliche Faktoren für das weit verbreitete Gefühl der Erschöpfung und des Burnouts, von dem unsere Befragten berichten. Der von vielen beschriebene psycho-emotionale Zustand weist Anzeichen von Mitgefühlsmüdigkeit auf, ein Phänomen, das bei Fachkräften auftreten kann, deren Tätigkeit die Pflege anderer Menschen umfasst, insbesondere solcher, die Schmerzen oder ein Trauma erlebt haben. Diese schwere emotionale Erschöpfung beeinträchtigt die Fähigkeit der Pflegekräfte, Patient*innen zu versorgen und ihre beruflichen Aufgaben zu erfüllen, und ist einer der Gründe, warum viele schließlich ihren Beruf aufgeben.
Viele Befragte sahen in ihrer geringen Bezahlung einen Beleg für die Abwertung und Unsichtbarkeit der Pflegearbeit. Die begrenzten Möglichkeiten der Pflegekräfte, Einfluss auf ihre Arbeitsbelastung zu nehmen oder zusätzliche Aufgaben und die Versorgung weiterer Patient*innen abzulehnen, lösten bei vielen ein Gefühl der Ungerechtigkeit und Ohnmacht aus.
Wie unsere Studie zeigt, hat sich ein Teufelskreis entwickelt: Niedrige Gehälter, steigende Arbeitsbelastung, körperlich und emotional anstrengende Arbeit, fehlende Finanzmittel und nachteilige administrative Entscheidungen treiben Pflegekräfte und medizinisches Nachwuchspersonal dazu, den öffentlichen Dienst oder den Beruf ganz aufzugeben. Diejenigen, die bleiben, sind dann mit noch höherer Arbeitsbelastung und schlechteren Arbeitsbedingungen konfrontiert, was zu einem weiteren Personalabfluss führt. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass die Zahl der Pflegekräfte in der Ukraine zwischen 2015 und 2022 um 30 Prozent gesunken ist.
Die Grundlagen der Pflege wiederherstellen
Die Qualität der medizinischen Versorgung hängt davon ab, dass genügend Pflegekräfte zur Verfügung stehen, die die Aufgaben erfüllen können, für die sie ausgebildet sind. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, die Zahl der medizinischen Fachkräfte der mittleren Ebene zu erhöhen, offene Stellen in Gesundheitseinrichtungen zu besetzen und klare, landesweite Standards zur Regulierung der Arbeitsbelastung von Pflegekräften festzulegen. Diese Maßnahmen könnten dazu beitragen, dass Pflegekräfte ihre Aufgaben vollständig und effektiv erfüllen können, was zu einer besseren Gesundheitsversorgung und einem geringeren Abgang von Pflegekräften aus dem Sektor führen würde. Werden diese Herausforderungen nicht rechtzeitig angegangen, könnten die in unserer Studie festgestellten Probleme aufgrund von Personalmangel in der Pflege, darunter auch Absagen von Operationen, im kommenden Jahrzehnt weiter zunehmen.
Nataliia Lomonosova ist Fellow beim Ukraine Research Network@ZOiS, das vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt gefördert wird. Sie ist Mitautorin der Studie „One for Three: How Ukrainian Nurses Work”.