ZOiS Spotlight 9/2023

Weiße Flecken im deutschen Geschichtsbewusstsein: Die besetzte Ukraine im Zweiten Weltkrieg

Von Tatjana Tönsmeyer 03.05.2023

Während der Krieg gegen die Ukraine andauert, jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 78. Mal. Dass Krieg für weite Teile der Zivilbevölkerung Besatzung bedeutet, wird in der Ukraine abermals deutlich – ein Thema, das ausgerechnet im deutschen Geschichtsbewusstsein bisher kaum eine Rolle spielt.

Beispiel für die frühe Erinnerungskultur, die die Shoa nicht explizit nennt: Mahnmal auf dem Jüdischen Friedhof am Weinberg, Wuppertal, eingeweiht 1955. Frank Vincentz / CC BY-SA 3.0

Der Krieg in der Ukraine dauert mittlerweile mehr als 14 Monate – und das Kriegsende des Zweiten Weltkriegs jährt sich in diesen Tagen zum 78. Mal. Doch so vielfältig die erinnerungspolitischen Bemühungen in der Bundesrepublik sind, der russische Krieg gegen die Ukraine zeigt, dass es nach wie vor weiße Flecken gibt. Dazu gehört ein Wissen darum, was Besatzung für jene Menschen, die unter ihr zu leben hatten und haben, bedeutete. Davon, wie dieses Nicht-Wissen entstanden ist und welche Auswirkung sich daraus ergeben, handelt dieser Beitrag.

Das Beschweigen der NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik

Die deutsche Gesellschaft mit den Verbrechen der Nationalsozialisten (NS) zu konfrontieren, gehörte zu den frühen Anliegen der Alliierten. Doch viele Deutsche sahen sich selbst als Opfer und wiesen jede Verantwortung zurück. Die eigene Beteiligung an Verbrechen wurde beschwiegen. „Besatzer“, das waren die Anderen – die „Russen“ (in der lange üblichen Verkürzung, die Russland mit der Sowjetunion gleichsetzte) und die Westalliierten. Folgerichtig galt auch die Erinnerungskultur vor allem den eigenen Opfern.

Selbst über die Opfer der Shoah, dem Massenmord an der jüdischen Bevölkerung, wurde zunächst nur verklausuliert geredet. Typisch waren Gedenkinschriften wie „Dem Gedenken der Opfer des Hasses, der Nachwelt zur Mahnung, 1933-1945“. Da Umfragen zufolge etwa jede*r dritte Bundesdeutsche antisemitische Einstellungen hegte, konnten auch die überlebenden Opfer nur zu den Bedingungen der Mehrheitsgesellschaft über das erfahrene Leid sprechen, das heißt, indem sie dieser die direkte Konfrontation mit den Verbrechen ersparten.

Osteuropäische Opfer verschwanden hinter dem Eisernen Vorhang. Häufig auch von den eigenen Regierungen nicht anerkannt, hatten sie in Zeiten des Kalten Krieges und bei ungebrochenem Antikommunismus kaum Optionen, in der deutschen Öffentlichkeit Gehör zu finden. Nachrichten aus „dem Osten“ galten vor allem als Propaganda, während Überzeugungen von der „sauberen Wehrmacht“ weit verbreitet waren.

Deutsche Erzählungen vom 8. Mai

Das frühe Sprechen über die NS-Vergangenheit wurden vor allem von der Erlebnisgeneration geprägt; von jenen, die die Realität von Krieg und Besatzung kannten, sich ihr aber nicht stellen wollten. Mit den Prozessen der 1960er Jahre rückten die Verbrechen jedoch stärker ins Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit, der 9. November entwickelte sich zum Gedenktag für die jüdischen Opfer.

Weitere Opfergruppen hätten am 8. Mai Berücksichtigung finden können, dem Tag, an dem der Zweite Weltkrieg endete. Damit jedoch tat sich die Bundesrepublik lange schwer. In seiner Erklärung zum 20. Jahrestags des Kriegsendes befand Bundeskanzler Ludwig Erhard 1965, dass es sich um die Rückschau auf eine „Welt [handele], die Freund und Feind nicht mehr ganz erfassen“ könne. Fünf Jahre später, im November 1970, sank Willy Brandt vor dem Ehrenmal für die Kämpfer des Warschauer Ghettos auf die Knie; eine Empathiebekundung, die ihm zuhause nicht nur Zustimmung eintrug.

Ebenfalls ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist die Rede von Richard von Weizäcker zum 8. Mai 1985. Sie gilt als Zäsur, etablierte der Bundespräsident doch eine Lesart vom 8. Mai als Tag der Befreiung. Zugleich ist sie als Beginn einer sich mit den Opfern identifizierenden Erinnerung kritisiert worden, und damit als Versuch, sich auf die „richtige Seite“ der Geschichte zu stellen, ohne diese aufzuarbeiten. Traditionell an der Rede war, dass der Bundespräsident seinem Publikum eine Konfrontation mit Fragen der Verantwortung ersparte. Zwar sprach er von einer „verbrecherischen Führung“, zeichnete jedoch von der deutschen Gesellschaft ein weitgehend passives Bild und forderte: „Jeder, der die Zeit bei vollem Bewusstsein erlebt hat, frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung.“ Also nicht öffentlich und nicht juristisch.

Der Weg in die Gegenwart

Seit den 1990er Jahren hat sich die Erinnerungspolitik stark dynamisiert: Der nationalsozialistische Völkermord an den Juden ist in einem global gewordenen Holocaust-Diskurs zum Inbegriff des Genozids avanciert; eine zunehmend ausdifferenzierte Infrastruktur in Forschung und Vermittlung trägt dem Rechnung. Jüdische Opfer haben dabei verstärkt Gesicht und Stimme erhalten. Ausstellungsprojekte wie die „Verbrechen der Wehrmacht“ oder die Etablierung einer Stiftung zur Entschädigung von Zwangsarbeiter*innen vermitteln Wissen und halten die Erinnerung wach, aufbauend auf historischer Forschung. Dies spiegelt sich auch in den erinnerungspolitischen Reden, zum Beispiel des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, ob am 1. September 2019 im polnischen Wieluń oder am 18. Juni 2021 in Berlin (80. Jahrestags des Beginns des Zweiten Weltkriegs bzw. des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion).

Wo immer sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Deutschen nicht selbst vorrangig Opfer von NS-Gewaltherrschaft und Krieg waren, ging dies häufig mit dem Imperativ des „Nie wieder“ einher: Nie wieder Auschwitz. Nie wieder Krieg. Allerdings: Ein „Nie wieder Besatzung“ ist kaum zu vernehmen. Denn bei allen erinnerungspolitischen Fortschritten ist Besatzung bisher erst in Ansätzen Teil des deutschen erinnerungspolitischen Diskurses. Zu stark hat das eingangs geschilderte Vergessen-Machen durch Beschweigen gewirkt, zu wenig ist immer noch bekannt, dass Krieg und Besatzung nicht identisch sind und dass gerade Besatzung als hochgradig asymmetrisches Verhältnis zwischen Besatzern und Besetzten für letztere vielfach sehr gefährlich ist. Bedenkt man, dass die Ukraine zwischen 1941 und 1944 deutsch besetzt war, es ein Wissen über Besatzung also einmal in Teilen der deutschen Gesellschaft gegeben hat, sind ukrainische Irritationen angesichts dieser deutschen Vergesslichkeit nicht erstaunlich. In der Bundesrepublik jedoch trug das Beschweigen nach dem Krieg dazu bei, dass bis heute eine Sensibilisierung für die Gefahren der Zivilbevölkerung unter Besatzung fehlt und damit auch ein Wissen, was Besatzung bedeutet: Bedroht-Sein, Ängste, Demütigungen, physische und psychische Verletzungen, Hunger, fehlende medizinische Versorgung, Verschleppungen, Vergewaltigungen und andere Gewalt.

Okkupation in der Ukraine wieder präsent

Geschichte wiederholt sich nicht. Aber historisches Wissen kann sensibilisieren. Und es wirkt fast wie eine Aktualisierung, diesmal mit den ukrainischen Opfern, wenn der Bundeskanzler in seiner Zeitenwende-Rede vom 27. Februar 2022 darauf verweist, dass viele noch die „Erzählungen unserer Eltern oder Großeltern […] vom Krieg“ im Ohr hätten. Wieder geht es um das Opfererleben. Wo aber die Väter, Großväter oder auch schon Urgroßväter im Krieg waren, dass Zehntausende von ihnen als Besatzer in der Ukraine Dienst taten, ist weit weniger Teil des intergenerationellen Gesprächs.

Europa auf dem Höhepunkt der deutschen Besatzung, 1941-42. Copyright: Morgan Hauser/ CC BY-SA 3.0

Dabei gilt es heute anzuerkennen, dass die deutsche Okkupation der Weltkriegsjahre zum europäischen dark heritage gehört: Auf dem Höhepunkt der deutschen Machtexpansion 1941/42 lebten rund 230 Millionen Menschen zwischen Norwegen und den griechischen Mittelmeerinseln sowie der französischen Atlantikküste und Gebieten tief im Inneren der Sowjetunion unter deutscher Besatzung. Der renommierte britisch-US-amerikanische Historiker Tony Judt sprach davon, dass der Zweite Weltkrieg für die Zivilbevölkerung ein „Besatzungskrieg“ gewesen sei. Was in Deutschland vergessen gemacht worden ist, ist in der Ukraine präsent.


Prof. Dr. Tatjana Tönsmeyer hat den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal inne.