ZOiS Spotlight 4/2022

Was bedeutet die aktuelle Kriegstreiberei in Bosnien und Herzegowina?

Von Jessie Barton Hronešová 02.02.2022
Feier zum 30-jährigen Bestehen der Republika Srpska Anfang Januar 2022. IMAGO / Pixsell

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Am 9. Januar blickte die Welt mit Sorge auf Bosnien und Herzegowina, als Polizeibeamte der Republika Srpska durch Banja Luka marschierten und in Gegenwart verurteilter Kriegsverbrecher nationalistische Lieder „im Namen der serbischen Nation“ sangen. Die Bilder aus dem bosnisch-serbischen Teil des aus zwei Entitäten bestehenden Bosnien und Herzegowina weckten schmerzhafte Erinnerungen an den Bosnienkrieg 1992-1995 und versetzten das Land in Angst.

Seit am 9. Januar 2017 in der Republika Srpska zum ersten Mal ein neueingeführter, vom bosnisch-herzegowinischen Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärter Feiertag begangen wurde, haben die jährlichen Feierlichkeiten sich zu einer bizarren Parade des bosnisch-serbischen Nationalismus entwickelt, angeführt von dessen selbsterklärtem Verteidiger und Ko-Präsidenten von Bosnien und Herzegowina Milorad Dodik. Zwei Tage vor der diesjährigen Feier hatten einige bosnische Serben während des orthodoxen Weihnachtsfests Schüsse in die Luft abgegeben und dabei „Es ist Weihnachten – schießt auf die Moscheen!“ gesungen.

Viele Analyst*innen sind durch das konstante Spiel mit dem Feuer und die wiederkehrenden Sezessionsdrohungen der bosnisch-serbischen Führung bereits abgestumpft. Mittlerweile fragen sich jedoch selbst die erfahrensten unter ihnen, ob es sich bei den jüngsten Ereignissen um das Vorspiel zu einem neuen Krieg handelt.

Vorgeschichte: das Gesetz gegen die Leugnung des Völkermords

Die aktuelle Sorge um die Zukunft von Bosnien und Herzegowina hat mehrere gute Gründe. Dodik hat die Kunst perfektioniert, den Staat lahmzulegen und die Idee einer Sezession der Republika Srpska für sich zu nutzen – einer Entität mit 1,3 Millionen Einwohner*innen, die nicht die territorialen Voraussetzungen besitzt, um als unabhängiger Staat funktionsfähig zu sein. Zuletzt beschränkte Dodik sich jedoch nicht mehr auf bloße Rhetorik, sondern begann praktische Schritte einzuleiten. Die internationalen Reaktionen fielen eher schwach aus, da die EU ihm gegenüber auf Zugeständnisse setzt, eine extrem kontraproduktive Strategie, die vor allem vom derzeitigen Kommissar für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik Olivér Várhelyi aus Ungarn vorangetrieben wird. Dodik unterhält zudem freundschaftliche Beziehungen mit China und zählt auf die diplomatische Unterstützung Russlands, vor allem innerhalb der UN und in den multinationalen Institutionen, die über administrative Befugnisse in Bosnien und Herzegowina verfügen.

Auslöser der aktuellen Krise war der Erlass eines lange diskutierten Gesetzes durch den Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina am 23. Juli 2021, welches es unter Strafe stellt, Völkermord und Kriegsverbrechen zu leugnen und Kriegsverbrecher*innen Ehre zu erweisen. Auf symbolischer Ebene war das Gesetz für Dodik ein Geschenk des Himmels. Schließlich hatte er seit 2006 ununterbrochen behauptet, dass „seine“ Leute – die Menschen in der Republika Srpska – dämonisiert, des Völkermords beschuldigt, ungerecht behandelt und unterdrückt würden. Angesichts wachsender Opposition, einer verheerenden wirtschaftlichen Lage und seines schweren Missmanagements der Covid-19-Pandemie kämpfte er um sein politisches Überleben. Das Gesetz bot ihm die Gelegenheit, sich als alleinigen Beschützer bosnisch-serbischer Interessen zu inszenieren und gleichzeitig seine Ambitionen einer Selbstverwaltung der Republika Srpska voranzutreiben.

Im September 2021 verkündete Dodik, dass die Republika Srpska ihre eigene Armee aufstellen, sich aus der obersten Justizbehörde und der Steuerverwaltung von Bosnien und Herzegowina zurückziehen und eigene Grenzkontrollen einrichten werde. Damit würde sie die materiellen Voraussetzungen für eine künftige Selbstverwaltung schaffen. Das Parlament der Republika Srpska stimmte im Dezember 2021 für diese Maßnahmen, die sich nur dem Namen nach von einer tatsächlichen Sezession des Territoriums unterscheiden.

Wie Populisten innerhalb der EU Dodiks Politik ermöglichen

Genauso wie auf frühere Krisen reagierte das Ausland unter anderem mit Sanktionsdrohungen und einer Welle von Diplomatie auf die jüngsten Tumulte in Bosnien und Herzegowina. Nur die USA haben wirtschaftliche Sanktionen erlassen. Dodik zeigte sich davon jedoch unbeeindruckt und feierte die Sanktionen in einem medial vielrezipierten Video. Die EU hielt sich unterdessen zurück, da Dodik von Kroatien, Slowenien und insbesondere Ungarn unterstützt wird. Andere ernstzunehmende Maßnahmen wurden bisher nicht ergriffen, etwa die dürftige, nur 800 Soldat*innen umfassende EUFOR-Militärmission in Bosnien und Herzegowina aufzustocken, oder die Konfrontation mit Populisten innerhalb der EU zu suchen und ihrer Unterstützung Dodiks Einhalt zu gebieten.

Im Inland zeigen die bosnischen Kroat*innen sich unbesorgt. Sie versuchen momentan, ein für sie möglichst vorteilhaftes Wahlrecht auszuhandeln, und das Vorgehen der Republika Srpska kann für ihre eigene Verhandlungsposition nur von Vorteil sein. Die Wahlrechtsreform ist einer der zentralen Streitpunkte in Bosnien und Herzegowina, wo dieses Jahr noch Wahlen stattfinden werden. Die für Korruption und Missmanagement berüchtigte bosniakische Führung ist währenddessen zu keiner wirksamen Antwort fähig, da sie in ihre eigenen internen Streitereien verstrickt und vollständig auf die Beratung internationaler Akteure angewiesen ist.

Die EU hat währenddessen ein Paket von Zugeständnissen vorgeschlagen, für das sich Várhelyi, ein enger Vertrauter des ungarischen Premierministers Viktor Orbán, verantwortlich zeigt. Nun steht er im Zentrum von Ermittlungen, da ihm vorgeworfen wird, sich mit Dodik abgestimmt und den letzten Bericht der Europäischen Kommission über die Beitrittsaussichten Serbiens geschönt zu haben. Die Strategie des EU-Kommissars würde Dodik die finanziellen Mittel an die Hand geben, seine Ambitionen umzusetzen. Verschlimmert wird die Situation dadurch, dass Kroatien sich ebenfalls einmischt. Seit das Land 2013 in die EU aufgenommen wurde, verfolgt es eine immer nationalistischere Politik und tritt als wichtigster Vertreter bosnisch-kroatischer Interessen auf. Der kroatische Präsident Zoran Milanović hat offen erklärt, Dodik zu unterstützen, und sich gegen jegliche Maßnahmen der EU gegen die Republika Srpska ausgesprochen.

Ein Schlüsselakteur ist Serbien. Rhetorisch hat der serbische Präsident Aleksandar Vučić sich jedoch von jeglichen Sezessionsabsichten distanziert, Dodik dazu aufgerufen, mit den zentralstaatlichen Institutionen zu kooperieren, und angekündigt, sich für eine Deeskalation der Krise einzusetzen. Vučić, der sich als Partner der EU präsentiert, konnte zwar etwas mäßigend auf Dodik einwirken. Letztendlich liegt es jedoch im Interesse Serbiens, die Institutionen der Republika Srpska gegenüber denen des Zentralstaats zu stärken, da Belgrad so mehr Einfluss in Bosnien und Herzegowina gewinnen würde.

Permanente Krise als Konsequenz

Trotz der serbischen Intervention ist die Gefahr immer noch groß, dass es zu Gewalt kommen könnte – wenn auch lokal und in ihrem Ausmaß begrenzt. Ein umfassender Konflikt wie in den 1990er-Jahren ist indes schwer vorstellbar. Die regionale Situation hat sich seitdem verändert und die Nachbarn von Bosnien und Herzegowina haben kein Interesse daran, in einen weiteren Konflikt um die Republika Srpska hineingezogen zu werden. Vor allem aber wäre ein Krieg nicht einmal im Interesse Dodiks. Er möchte in erster Linie seine Macht erweitern und festigen und gleichzeitig verhindern, dass sich internationale oder zentralstaatliche Autoritäten in seine politischen Angelegenheiten einmischen. Trotzdem kann lokal begrenzte Gewalt nicht ausgeschlossen werden, auch wenn die Mehrheit der bosnischen Bevölkerung einen Konflikt ablehnt.

Die momentane Krise sollte also nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Wie die aktuellen Bedrohungen nahelegen, hat die besondere institutionelle Struktur von Bosnien und Herzegowina, die auf das Abkommen von Dayton 1995 zurückgeht, ihr Verfallsdatum überschritten. Schon seit über einem Jahrzehnt benötigt das Land dringende Verfassungsreformen. Die aktuellen Wahlrechtsreformen und politischen Zugeständnisse reichen für eine langfristige Transformation nicht aus. Stattdessen braucht Bosnien und Herzegowina einen deliberativen Reformprozess unter Beteiligung aller nationalen und subnationalen Akteure. Ohne ihn wird es für das Land schwer werden, den Kreislauf aus Sezessionsdrohungen und permanenten Krisen zu durchbrechen.


Dr. Jessie Barton Hronešová ist Politikwissenschaftlerin und Marie Sklodowska-Curie Global Fellow an der University of North Carolina-Chapel Hill und der Ca’Foscari-Universität in Venedig.