ZOiS Spotlight 36/2022

Ungarns Pragmatismus: zwischen Russland und der EU

Von Ákos Kopper 14.12.2022
Ungarns Premierminister Viktor Orbán und der russische Präsident Wladimir Putin bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Moskau am 1. Februar 2022. IMAGO / ITAR-TASS

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Bisher hat Ungarn die von der EU wegen des Kriegs in der Ukraine gegen Russland verhängten Sanktionen zwar mitgetragen. Allerdings hat es das oftmals nur widerwillig getan und gelegentlich sogar damit gedroht, von seinem Vetorecht im Europäischen Rat Gebrauch zu machen. Gleichzeitig hat die ungarische Regierung im eigenen Land eine Kampagne gestartet, die die EU-Sanktionen mit Bomben vergleicht. In einer nationalen Umfrage, die auf einem tendenziösen und manipulativen Fragebogen beruhte, hat die Regierung alle ungarischen Bürger*innen darum gebeten, ihren Unmut über die Sanktionspolitik der EU zum Ausdruck zu bringen.

Dass Ungarn einen Alleingang unternimmt, zwischen der EU und Russland hin- und her manövriert und letzterem Unterstützung signalisiert, sollte mittlerweile eigentlich niemanden mehr überraschen. Viel irritierender ist die Tatsache, dass auch viele ungarische Bürger*innen für Russland und nicht die Ukraine Partei ergreifen. Schließlich herrscht in Ungarn eigentlich ein tiefes Misstrauen gegenüber Russland und viele Menschen hängen auch heute noch an den Erinnerungen an die ungarische Revolution von 1956.

Balanceakt zwischen der EU und Russland

Der ungarische Premierminister Viktor Orbán hat seine Prioritäten, was den Krieg in der Ukraine betrifft, unmissverständlich klargemacht. Zum einen wolle er die Versorgung mit russischem Gas sichern und zum anderen die ungarische Minderheit in der Ukraine schützen. Ein schnelles Ende des Krieges könnte beides gewährleisten. Dass es sich dabei um eine moralisch fragwürdige Haltung handelt, spielt für Orbán keine Rolle. Er ist davon überzeugt, dass Normen und Werte nicht der Maßstab außenpolitischer Entscheidungen sein sollten. Orbán hat betont, dass eine ordentliche Außenpolitik in erster Linie das nationale Interesse im Blick haben müsse. Ideologisch getriebene Außenpolitik sei „von cleveren Staaten erfunden worden, damit dumme sie betreiben“.

Das erklärte Ziel des ungarischen Regimes, alle Ungar*innen einschließlich der ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten zu vertreten, musste nach der erneuten Machtübernahme von Orbáns Fidesz-Partei 2010 zwangsläufig zu Spannungen mit der Ukraine führen. Konflikte wurden in der Regel mit Sorgen um das Schicksal der ungarischen Minderheit in Transkarpatien begründet, unter anderem gab es Diskussionen um die doppelte Staatsbürgerschaft und um Einschränkungen des Gebrauchs der ungarischen Sprache. Nichtsdestotrotz sind viele der Meinung, dass der Grund für Ungarns feindseliges Verhalten gegenüber der Ukraine seit 2014 – zum Beispiel blockiert das Land immer wieder Treffen zwischen der Ukraine und der Nato – gar nicht so sehr in ihrer Sorge um die ungarische Minderheit zu suchen ist. Vielmehr gehe es ihr darum, sich mit Russland gut zu stellen.

Dass er Russland Gefallen tut, passt zu Orbáns offen ausgesprochenem Modus vivendi, auf ein Gleichgewicht in den Beziehungen zur EU und Russland zu setzen. Er glaubt, dass engere Beziehungen mit Russland ihm ein wirksames Druckmittel in Verhandlungen mit der EU und den USA verschaffen. Russland hat ihm zudem als Inspirationsquelle für seinen Umbau Ungarns zu einem illiberalen Staat gedient. Erklärungsbedürftig ist also weniger die Politik der Regierung an sich als der Widerspruch zwischen Orbáns heute prorussischer Haltung und seiner Selbstdarstellung als Freiheitskämpfer, der nahezu eigenhändig die sowjetischen Truppen aus dem Land gejagt habe. Wie können die Wähler*innen von Fidesz diese Widersprüche miteinander vereinbaren?

Einen Teil der Erklärung liefert der umfassende Propagandaapparat des Regimes, inklusive der öffentlichen Medien. Er wird vom Regime genutzt, um die russische Propaganda nahezu wörtlich zu wiederholen und Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen. Während Anfang März 2022 nur 11 Prozent der Fidesz-Anhänger*innen den russischen Angriff auf die Ukraine in Umfragen als gerechtfertigt bezeichneten, waren es Ende des Monats schon 43 Prozent.

Warum euroskeptische Stimmen so viel Resonanz finden, ist leichter zu erklären. In ganz Zentral- und Osteuropa gibt es immer noch gewisse Ressentiments gegenüber dem Westen, weil dieser den Osten der Gnade der Kommunist*innen überlassen habe. Nichtsdestotrotz setzt es eine flexible Interpretation historischer Tatsachen voraus, um die Geschichte Ungarns seit dem Ersten Weltkrieg so darzustellen, als habe der Westen – um die Worte des Premierministers zu gebrauchen – Osteuropa „vergewaltigt“ und Ungarn 1956 zum wiederholten Mal verraten.

Worte und Institutionen ohne jede Bedeutung

Die Propaganda kann jedoch nur zum Teil erklären, warum die ungarische Öffentlichkeit für diesen flexiblen Umgang des Regimes mit der Vergangenheit so empfänglich ist. Ein anderer Teil der Erklärung ist, dass Worte jegliche Bedeutung verloren haben und Institutionen gegen ihre eigenen Grundsätze verstoßen. Ein paradigmatisches Beispiel für Orbáns verquere, messianische Phrasen war seine Behauptung: „Ich bin der christlichste und damit europäischste aller Europäer. Europas DNA ist in mir. Ich bin sein Beschützer.” Wer auf Vernunft und Konsistenz beharrt, wird von solchen Phrasen schockiert sein. Bei vielen Menschen stoßen sie jedoch auf Resonanz.

Orbán hat selbst zugegeben, dass Worte für ihn auf einer bestimmten Ebene reine Show sind: „Gegenüber ausländischen Diplomat*innen betone ich immer wieder, dass sie meinen Taten Aufmerksamkeit schenken sollen, nicht meinen Worten.“ Aber nicht nur Worte haben jegliche Bedeutung verloren. Auch die Medien und das staatliche Fernsehen haben nicht mehr die Aufgabe, die Mächtigen in Schach zu halten und eine demokratische Kontrollfunktion auszuüben, sondern dienen lediglich der Verbreitung von Propaganda. Von Gesetzen und Gerichtsverfahren wird auf willkürliche Weise Gebrauch gemacht, um bestimmte Menschen zu verfolgen, während die Schützlinge des Regimes für offensichtlich von ihnen begangene Vergehen und Unrechtstaten nicht belangt werden.

Engagierte Angehörige der Opposition versuchen zwar etwas zu bewegen, machen sich damit aber unweigerlich zu Kompliz*innen des Regimes bei seinem Versuch, die Illusion einer Demokratie aufrechtzuerhalten. Da das Regime über eine Zweidrittelmehrheit verfügt und ungestört einen Ausnahmezustand nach dem nächsten verhängen kann, ist das Parlament längst nur noch eine Fassade, um den Schein einer funktionierenden Demokratie zu wahren. Da in dieser neuen Wirklichkeit die Wahrheit keine Rolle mehr spielt, ist es aussichtslos, sich dem Regime mit vernünftigen Argumenten entgegenzustellen. Und für den Kampf um Emotionen sind Populist*innen um einiges besser gerüstet.

Kein Gegenmittel in Sicht

Warum ist das alles so wichtig? Weil in einer Situation, in der Worte jegliche Bedeutung verloren haben, Institutionen ausgehöhlt wurden und im Widerspruch zu ihren eigenen Grundsätzen handeln, wahrscheinlich keines der Zugeständnisse, mit denen das Regime versucht, die EU zu beruhigen – und weiterhin Gelder von ihr zu erhalten –, in der Lage ist, die Schäden an der ungarischen Demokratie zu beheben.

Angesichts der schwierigen Wirtschaftslage und steigenden Inflation stößt der Ruf der Regierung nach Frieden, der absurderweise die EU und den Westen für die Fortdauer des Krieges verantwortlich macht, in der Bevölkerung auf große Resonanz. Stimmen, die auf die Verlogenheit dieses Narrativs aufmerksam machen, finden so kaum Gehör.


Prof. Ákos Kopper ist Humboldt Research Fellow und Gastwissenschaftler am ZOiS