ZOiS Spotlight 12/2022

Serbien vor der Wahl: Die zweideutigen Folgen des Kriegs in der Ukraine

Von Florian Bieber 30.03.2022
Der russische Präsident Putin wird vom serbischen Präsidenten Vučić in Belgrad mit militärischen Ehren empfangen (Archivbild 2019). IMAGO / ZUMA Wire

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Seit der serbische Präsident Aleksandar Vučić vor einem Jahrzehnt an die Macht kam, ist für die serbischen Bürger*innen kaum ein Jahr ohne eine Präsidentschafts- oder Parlamentswahl in ihrem Land vergangen. Die Legislative hat in dieser Zeit lediglich eine einzige Amtszeit komplett durchlaufen. Das hat jedoch wenig mit politischer Instabilität zu tun. Immerhin verfügt die dominierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) seit 2014 über eine Mehrheit der Sitze im Parlament. Stattdessen dienten die häufigen Wahlen dazu, dem zunehmend autoritären Regime immer wieder aufs Neue Legitimation zu verschaffen, und das Entstehen einer stringenten Opposition zu verhindern.

Die für den 3. April angesetzten Wahlen wurden kurz nach den letzten, im Juni 2020 nach der ersten Welle der Covid-19-Pandemie abgehaltenen Parlamentswahlen versprochen. Da die Opposition die Wahl mehrheitlich boykottiert hatte, saßen nur eine Handvoll unabhängiger Abgeordneter im Parlament. Es besaß deshalb nicht einmal den äußeren Anschein demokratischer Legitimation. Durch die Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen im April, an denen alle zentralen Oppositionsparteien und -gruppen teilnehmen werden, soll eine Illusion der Demokratie wiederhergestellt werden.

Russlands langer Schatten

Der russische Einmarsch in die Ukraine wirft seinen Schatten auf die Wahlen in Serbien. Noch ist jedoch unklar, welche Auswirkungen er haben wird. Während seiner Regierungszeit hat Vučić die bisherige serbische Außenpolitik weitergeführt und vertieft, die auf vier Säulen beruht: gute Beziehungen zur EU, den Vereinigten Staaten, Russland und China. Insbesondere die Beziehungen zu Moskau und Peking haben während seiner Amtszeit eine Blüte erlebt. In den serbischen Boulevardmedien und Fernsehkanälen, die dem Regime nahestehen, wurde massiv für sie geworben. Russlands Präsident Wladimir Putin tauchte dort regelmäßig als Held und Beschützer der Serb*innen auf, während der Westen in der Regel verspottet und verteufelt wurde. Kurz bevor der Krieg begann, behauptete das berüchtigte Sensationsblatt Informer, die Ukraine hätte Russland angegriffen. Auf den Titelseiten der Zeitschrift sind solche Verdrehungen der Tatsachen mittlerweile zur Normalität geworden.

Es ist deshalb kaum eine Überraschung, dass einige der wenigen prorussischen Demonstrationen, die Europa seit Ausbruch des Krieges erlebt hat, in Belgrad stattfanden. Bei der letzten am 4. März dominierten Kritiker*innen Vučićs, die ihm einen Ausverkauf an den Westen vorwarfen, weil Serbien bei der UN-Generalversammlung dafür gestimmt hatte, den Krieg zu verurteilen. Das deckt sich mit einer Umfrage, die im Sommer 2021 von der Europe Policy Advisory Group (BiEPAG) in den Ländern des westlichen Balkans durchgeführt wurde, und gezeigt hat, dass Putin in Serbien mit Abstand der beliebteste internationale Staatschef ist. Unter den Befragten gaben 66 Prozent an, ein sehr positives Bild von ihm zu haben. Die Schuld für den gegenseitigen Antagonismus sahen sie eher beim Westen als bei Russland: 5 Prozent gaben Russland die Schuld daran, 34 Prozent dem Westen und 53 Prozent beiden.

Zwar sind positive Haltungen gegenüber Russland und Putin unter den Unterstützer*innen der regierenden SNS und ihrem Koalitionspartner, der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS), stärker verbreitet, sie finden aber auch unter Anhänger*innen der Opposition beträchtlichen Anklang. Rechtsextreme Parteien haben offen prorussische Haltungen eingenommen, ihr Rückhalt in der Bevölkerung ist jedoch gering. Seit Kriegsbeginn durchgeführte Umfragen legen nahe, dass die fünf nationalistischen und rechtsextremen Parteien oder Koalitionen, die bei der Wahl antreten, alle bei der Drei-Prozent-Hürde liegen. Die meisten Parteien der größten Oppositionskoalition „Vereinigtes Serbien“ haben zwar den Krieg verurteilt, sich jedoch nicht für Sanktionen ausgesprochen. Lediglich die grüne Oppositionsbewegung „Moramo“ und kleinere Oppositionsparteien haben verlangt, dass sich Serbien den Sanktionen anschließt.

Innerhalb der Regierungskoalition bestehen entscheidende Unterschiede zwischen der SNS und der SPS. Die sozialistische Partei hat enge politische und wirtschaftliche Beziehungen zu Russland, da sie unter anderem Serbiens staatlichen Gasversorger Srbijagas kontrolliert. Ihr Parteivorsitzender und serbischer Parlamentssprecher Ivica Dačić hat sich offen dagegen ausgesprochen, Partei gegen Russland zu ergreifen. Grundlage seiner Argumentation war jedoch weniger ein Einverständnis mit der russischen Politik, sondern vielmehr die Auffassung, dass die Unabhängigkeit des Kosovos sich ohne die Unterstützung Serbiens durch Russland weiter verfestigen könnte, und dass es sich bei der NATO-Intervention 1999 um einen illegalen Krieg des Westens gehandelt habe.

Vučić ist dagegen eher behutsam vorgegangen. Nachdem er zu Beginn des Krieges zunächst geschwiegen hatte, veröffentlichte der Nationalen Sicherheitsrat Serbiens eine verworrene Erklärung, in der die territoriale Integrität der Ukraine verteidigt wurde, ohne jedoch Russland als Schuldigen zu benennen. Stattdessen hieß es in der Erklärung: „Serbien bedauert aufrichtig, was sich momentan im Osten Europas abspielt. Russland und die Ukraine waren immer befreundete Länder der Republik Serbien und das serbische Volk betrachtet Russ*innen und Ukrainer*innen als Brudernationen. Wir betrachten den Verlust jedes einzelnen Menschenlebens in der Ukraine als wahre Tragödie.“

Mit ihrer Entscheidung, sich nicht an den Sanktionen gegen Russland zu beteiligen, gleichzeitig jedoch Resolutionen verschiedener internationaler Organisationen zu unterstützen, in denen die Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine verurteilt wurde, hat die serbische Regierung diese zweideutige Haltung beibehalten. Die serbische Premierministerin Ana Brnabić hat argumentiert, dass Serbien nicht aus wirtschaftlichem oder politischem Kalkül, sondern aufgrund seiner eigenen Erfahrungen mit schwerwiegenden Sanktionen in den 1990er-Jahren keine Sanktionen gegen Russland erlassen habe. Vučić und seiner Partei dient diese Position dazu, die westlichen Verbündeten davon abzuhalten, den Druck auf Serbien zu erhöhen, und gleichzeitig die Tür für Russland offenzuhalten.

Wie geht es nach einem Sieg Vučićs weiter?

Im aktuellen Wahlkampf wirbt Vučić mit dem Slogan „Frieden. Stabilität. Vučić“, der die Bedrohung des Krieges, mangelnde Sicherheit und steigende Preise ins Zentrum rückt und den Präsidenten als stärksten Beschützer der serbischen Bürger*innen präsentiert. Vučić wird also nicht als Verbündeter Russlands dargestellt, sondern als Staatsmann, der in einem schwierigen internationalen Umfeld behutsame Verhandlungen zum Schutz Serbiens führt. Die Opposition tut sich schwer damit, aus Vučićs prorussischer Politik Profit zu schlagen, was zum Teil daran liegt, dass die Parteien und Kandidat*innen der Opposition die unkritische Sicht der serbischen Regierung auf Russland teilen, und es sie außerdem mehr Stimmen kosten würde, Moskau offen zu verurteilen, als sie dadurch gewinnen könnten.

Momentan scheint ein Sieg Vučićs bei der Präsidentschaftswahl sicher, und solange in letzter Minute nichts Unerwartetes mehr geschieht, wird seine Partei das neugewählte Parlament dominieren. Eine zentrale Frage für die Zeit nach der Wahl wird sein, ob Vučić und seine Partei sich von Russland distanzieren werden, falls der Westen den Druck erhöht. Da das Regime dann keinen unmittelbaren Test der öffentlichen Meinung mehr zu bestehen hätte, wäre ein solches Szenario denkbar. Auch engere Beziehungen zu China könnten als potenzieller Ersatz für die Beziehungen zu Russland dienen, unter anderem wenn es darum geht, serbische Interessen innerhalb der UN zu verteidigen.


Florian Bieber ist Inhaber des Jean Monnet-Lehrstuhls für die Europäisierung Südosteuropas und Professor für Südosteuropäische Geschichte und Politik an der Universität Graz sowie der Koordinator der Balkans in Europe Policy Advisory Group (BiEPAG).