ZOiS Spotlight 15/2022

Russlands Kriege in Tschetschenien und der Ukraine im Vergleich

Von James Hughes 20.04.2022
Ein Warnschild mit der Aufschrift “Minen“ vor einem zerbombten Haus in Grosny, Tschetschenien. IMAGO / ZUMA Wire

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Im Dezember 1994 rückte eine lange Kolonne russischer Panzer in die tschetschenische Hauptstadt Grosny ein, um einen nationalistisch-sezessionistischen Aufstand unter der Führung des ehemaligen sowjetischen Luftwaffengenerals Dschochar Dudajew niederzuschlagen. Russland war davon ausgegangen, dass bereits die bloße Demonstration militärischer Macht zur Kapitulation der Aufständischen führen würde. Innerhalb weniger Stunden wurde die Kolonne jedoch von tschetschenischen Kämpfern vollständig aufgerieben. Russland verlor etwa 200 gepanzerte Fahrzeuge und rund 1.000 russische Soldaten wurden getötet oder gefangen genommen.

Zwischen dem russisch-tschetschenischen Konflikt und dem aktuellen Krieg in der Ukraine gibt es offensichtliche Parallelen, aber auch einige entscheidende Unterschiede. Der womöglich wichtigste Faktor bei einem solchen Vergleich ist die vom russischen Militär durchlaufene Lernkurve und seine taktische Anpassungsfähigkeit angesichts anfänglicher Fehlschläge. In taktischer Hinsicht stellen die Ereignisse in der Ukraine bislang eine Wiederholung des russischen Tschetschenienkriegs dar, jedoch in einem wesentlich kolossaleren Ausmaß. Das strategische Resultat wird wahrscheinlich ähnlich sein: ein kostspieliger russischer Sieg, erkauft durch massive Verluste der Gegenseite, eine zerstörte Infrastruktur und die Entvölkerung des Landes.

Russlands wechselnde Taktiken

Zunächst haben die Konflikte in Tschetschenien und der Ukraine gemeinsam, dass zahlenmäßig kleinere und schlechter ausgerüstete Armeen den russischen Truppen massive Schäden zufügen konnten. In beiden Fällen war die militärische Intervention Russlands, die im ersten Moment noch übermächtig erschien, durch taktisches Ungeschick und eine anfängliche Zurückhaltung geprägt, durch die zivile Opfer vermieden werden sollten. Große Panzerkolonnen gerieten in Hinterhalte Widerstand leistender Truppen, die Hit-and-Run-Guerillataktiken und asymmetrische Formen der Kriegsführung anwandten.

In beiden Konflikten büßte die russische Armee ein hohes Maß ihrer Manövrierfähigkeit auf ungünstigem Terrain in Dörfern, kleineren Städten und Wäldern ein. Mit tragbaren Panzerabwehrwaffen ausgestattete Verteidiger fügten ihr schwere Verluste zu. Die tschetschenische Seite hatte Glück, dass in Grosny umfangreiche sowjetische Militärbestände gelagert waren, während die Ukraine von Lieferungen tausender tragbarer Panzerabwehrwaffen aus verschiedenen NATO-Ländern profitierten.

In Tschetschenien passte Russland nach anfänglichen Rückschlägen seine Taktik an. Ein ähnlicher Umschwung hat auch in der Ukraine stattgefunden. Anfang 1995 wurde ein Großteil Grosnys durch willkürliche Luftangriffe dem Erdboden gleichgemacht, denen zehntausende Zivilist*innen zum Opfer fielen. Im Anschluss nutzte Russland Luftangriffe und Artilleriebeschuss, um jeglichen Widerstand zu brechen und dabei den direkten Kontakt mit tschetschenischen Streitkräften auf ein Minimum zu reduzieren. Wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der zu einer umfassenden Mobilisierung aller Männer im wehrfähigen Alter aufgerufen hat, rief auch Dudajew damals zu einer massenhaften Bewaffnung auf, um den Eindringlingen Widerstand zu leisten.

Inmitten eines asymmetrischen Krieges Zivilist*innen zu bewaffnen, setzt die gewöhnlichen Normen des Krieges faktisch außer Kraft. Insbesondere der kriegsrechtliche Schutz von Zivilist*innen wird dadurch zu einer Grauzone. Dieses Problem betrifft nicht nur Russland, wie die letzten großen Kriege im Irak und Afghanistan gezeigt haben, an denen NATO-Staaten militärisch beteiligt waren. Vor dem Hintergrund einer asymmetrischen Kriegsführung führt ein Verlust an Zurückhaltung tendenziell zu Massakern an der Zivilbevölkerung und möglicherweise sogar Genoziden sowie zur Misshandlung und Ermordung von Kriegsgefangenen.

Butscha und andere Schauplätze von Massakern in der Ukraine haben die Aufmerksamkeit von Beobachter*innen auf sich gezogen, aber ähnliche Szenen haben sich bereits in Samaschki und an anderen Orten in Tschetschenien abgespielt. Die Bomben- und Artillerieangriffe auf urbane Gebiete sowie der Gebrauch von Streu-, Aerosol- und Phosphorbomben im aktuellen Krieg in der Ukraine waren bereits Bestandteil früherer Konflikte, unter anderem auch der militärischen Einsätze von NATO-Staaten im Irak und in Afghanistan. Militärs betrachten diese Praktiken als wirksame Mittel gegen eingegrabene Infanteriestellungen. Sie gehören außerdem streng genommen nicht zu den verbotenen Taktiken und Waffen.

Werden solche Kriege inmitten von Zivilbevölkerungen ausgetragen, führt dies zu massiven Flüchtlingsströmen aus den Konfliktzonen heraus. Von militärischer Seite wird versucht, die Entvölkerung von Kriegsgebieten zu beschleunigen, um sogenannte Free-Fire-Zonen zu schaffen. Millionen von Ukrainer*innen sind mittlerweile ins Ausland geflohen; in Tschetschenien hatte Anfang der 2000er-Jahre ein Großteil der Bevölkerung das Land in Richtung von Flüchtlingscamps im benachbarten Inguschetien verlassen. Durch die Entvölkerung wird das Problem wahlloser Angriffe auf Zivilist*innen noch verstärkt, da die Militärs alle noch vor Ort gebliebenen Zivilist*innen als Teil der gegnerischen Kriegsanstrengungen betrachtet.

Putin braucht einen Sieg um jeden Preis

Es gehört zur Ironie des Tschetschenienkonflikts, dass westliche Länder ihn durch ihre Unterstützung Russlands im Ersten Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1997 mit anheizten. Der Grund dafür lag hauptsächlich darin, dass der Westen ein politisches Interesse am Machterhalt des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin hatte. Seine Bereitschaft zu einer hemmungslosen Kriegsführung im Zweiten Tschetschenienkrieg 1999-2007 bildete die Grundlage für den Aufstieg des bis dahin unbekannten Wladimir Putin zu Russlands populärstem Politiker und Staatsoberhaupt. Von Anfang an setzte er auf einen umfassenden Krieg gegen die Tschetschen*innen und griff dabei auf alle der oben beschriebenen Maßnahmen zurück.

Putin brachte auch einen Pragmatismus in die Kriegsführung, der Jelzin fehlte. Er spaltete erfolgreich den tschetschenischen Widerstand im Sinne einer klassischen Teile-und-Herrsche-Strategie. Für seinen Erfolg in den Tschetschenienkriegen zahlte Russland mit rund 11.000 getöteten und zehntausenden verwundeten Militär- und Sicherheitskräften, mindestens 50.000 getöteten und hunderttausenden verletzten tschetschenischen Zivilist*innen [1], einer weitgehend zerstörten Region und einer tschetschenischen Gesellschaft, die bis heute unter posttraumatischen Belastungsstörungen und den Umweltfolgen moderner Kriegsführung leidet.

Der Krieg in der Ukraine ist mittlerweile in eine neue Phase eingetreten. Russland versucht nun, in den offenen Steppen rund um die östlichen Regionen Luhansk und Donezk durch einen geschickteren Einsatz seiner konventionellen Waffen einen großen, bewegungsunfähigen Teil der ukrainischen Armee einzukesseln und zu vernichten. Bisherige Erfahrungen deuten darauf hin, dass Putin hofft, sich Uneinigkeiten auf der ukrainischen Seite pragmatisch zunutze machen zu können. Klar ist, dass er alle Mittel einsetzen wird, die notwendig sind, um sich einen Sieg in der Ukraine zu sichern, koste es, was es wolle. Erfolg im Krieg hat Putin großgemacht, und das Schicksal seines Regimes hängt vom Ausgang des Kriegs in der Ukraine ab.

James Hughes ist Professor für vergleichende Politikwissenschaft an der London School of Economics and Political Science (LSE). Er ist Autor des Buchs „Chechnya: From Nationalism to Jihad“.


[1] Die menschlichen Verluste sind stark umstritten. Die NGO Soldatenmütter Russlands spricht von rund 11.000 russischen Kriegstoten bis 2006, etwa das Doppelte der Zahlen des Russischen Verteidigungsministeriums. Unabhängige Quellen schätzen die zivilen Opfer auf 35.000 im Ersten und 10.000 im Zweiten Tschetschenienkrieg. In tschetschenischen Quellen finden sich mit 100.000-300.000 Opfern um ein Vielfaches höhere Schätzungen. Für eine Diskussion siehe Hughes (2007, 150-1).