ZOiS Spotlight 25/2022

Russlands Indoktrination durch Bildung in den besetzten Gebieten der Ukraine

Von Allyson Edwards 29.06.2022
Schülerin in Donezk während einer Prüfung. IMAGO / SNA

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Am 24. Februar begann Russland seine sogenannte „militärische Spezialoperation" in der Ukraine. Der russische Präsident Wladimir Putin rechtfertigte den Krieg unter anderem mit „historischen Ländern“, die Russland angeblich gestohlen worden seien. Seit Beginn der Invasion hat der russische Staat unter den Augen der Öffentlichkeit ein umfassendes Bildungsprogramm in den besetzten Gebieten entwickelt, um vor allem im Donbas junge Ukrainer*innen zu indoktrinieren, Russland und die Ukraine als ein und dasselbe Land zu betrachten.

Jugendliche Gruppen sind oft das Ziel von Propaganda. Gerade Bildungskontexte, wie etwa die Beziehungen zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen, sind oft durch Machtdynamiken geprägt und daher anfällig für Propaganda. Da das Ziel der russischen Kampagne ist, potenzielle künftige Führungskräfte heranzuziehen, wird sie mit hohen Kosten verbunden sein und jede Kursänderung oder Abkehr von ihr könnte Jahre in Anspruch nehmen.

Die Zerstörung der kulturellen Landschaft der Ukraine

Seit mehreren Monaten werden der Welt in den Medien die von Russland in der Ukraine verübten Verbrechen vor Augen geführt, darunter Massaker, sexuelle Gewalt und die allgemeine physische Zerstörung des Landes. Nachrichtenseiten zeigen Ukrainer*innen, die ihre Städte befestigen, Straßen, die mit Panzersperren versehen wurden, um den russischen Vormarsch auszubremsen, und wichtige Denkmäler und Artefakte, die mit feuerfesten Hüllen vor den Bomben geschützt werden sollen.

Trotz dieser Versuche, zentrale Orte der kollektiven Erinnerung und Identität zu schützen, sind sie weiterhin durch die russische Invasion bedroht. Der Krieg „zerstört das kulturelle Erbe [der Ukraine]. Bomben zerstören Museen, Bibliotheken, Kirchen, Moscheen, Universitäten und Theater", wie ein Bericht der BBC im Mai feststellte. Einige wichtige Kulturstätten wurden bereits zerstört, darunter das Holocaustmahnmal Babyn Jar in Kyjiw – ein ironisches Ziel für eine Operation, deren Zweck doch angeblich die Vernichtung des Nazismus sein soll.

Die Zerstörung macht deutlich, wie fragil Denkmäler im Angesicht militärischer Gewalt sind. Sie anzugreifen dient als Mittel, die Gesellschaft zu demoralisieren. Stattdessen trägt ihre Zerstörung jedoch zur Stärkung einer ukrainischen Identität bei, die über kulturelle Artefakte hinausgeht: In den sozialen Medien sind Videos von Menschen zu sehen, die in Bunkern unter der Erde ukrainische Lieder singen. Gruppen wie Saving Ukrainian Heritage Online arbeiten währenddessen daran, wichtige Dokumente zu erhalten und zu archivieren.

Die Verbannung der Ukraine aus der russischen Bildung

Schon zu einem frühen Zeitpunkt des Krieges ordneten die staatlichen Behörden Russlands an, Bezüge auf die Ukraine aus dem Lehrmaterial zu streichen. Prowoschtschenie, ein bekannter russischer Verlag für Lehrbücher, berichtete gegenüber dem Portal Mediazona, dass sie angewiesen wurden, Hinweise auf die Ukraine oder Kyjiw in ihren Lehrbüchern zu begrenzen. In Lehrbüchern präsentiertes Wissen wird als unstrittig wahrgenommen und bietet Schüler*innen ein Fenster zur Welt. Wie bei offiziellen, in der Regel von Fachwissenschaftler*innen verfassten Informationsquellen gilt der Inhalt von Lehrbüchern als das, „was wirklich historisch passiert ist“. Dass die Ukraine in russischen Lehrbüchern nur noch in begrenztem Maße auftaucht, wird langfristige Auswirkungen haben. Wahrscheinlich wird es dafür sorgen, dass Russ*innen in der Ukraine kein legitimes, eigenständiges Land mit einer von Russland unabhängigen Kultur und Staatlichkeit sehen werden. Natürlich besteht genau darin ein erklärtes Ziel des russischen Staats: Er möchte in der Bevölkerung die Auffassung verankern, dass Russland und die Ukraine ein und dasselbe sind.

Beim Treffen der Vorsitzenden der Russischen Historischen Gesellschaft (Rossijskoje Istoritscheskoe Obschtschestwo, RIO) am 11. März bemerkte Sergej Naryschkin, Direktor des russischen Auslandsgeheimdiensts und Vorsitzender der RIO: „Heute möchte ich gerne mit Ihnen darüber diskutieren, wie wir die Ressourcen, die den Mitgliedern der RIO zur Verfügung stehen, am besten nutzen können, um die Probleme zu lösen, mit denen unser Land konfrontiert ist. Zu unseren unmittelbaren Plänen gehört zum Beispiel die Entwicklung historischer Bildungsangebote für geflüchtete Kinder aus den Volksrepubliken Donezk und Luhansk.“ Sein Statement wurde von Aufrufen begleitet, den Kindern im Unterricht die „gemeinsamen historischen Meilensteine“ Russlands und der Ukraine zu vermitteln. Im April gründete die RIO Zweigstellen in Donezk und Luhansk. Der staatlichen russischen Medienagentur TASS zufolge „betonte Naryschkin, dass dies vor allem bedeutet, die Republiken [des Donbas] in einen gemeinsamen und einheitlichen Geschichts- und Kulturraum einzugliedern“.

Diese kulturelle Vereinigung findet mithilfe von formaler historischer Bildung statt. Im April berichtete das russische Ministerium für Wissenschaft und Bildung, dass russische Geschichtsbücher an Universitäten in Luhansk und Donezk verschickt worden seien. Als Nächstes wurde eine Reihe von Auffrischungskursen für Dozent*innen organisiert, die an den Universitäten des Donbas Geschichte lehren. Einem RIO-Artikel zufolge wurden die Dozent*innen über die „Ursprünge des altrussischen Staats, die Vereinigung der russischen Länder um Moskau und die Herausbildung des russischen Staatsgebiets im 16. und 17. Jahrhundert“ unterrichtet. Im Juni veranstaltete das Geschichtsmuseum der Südlichen Föderalen Universität eine Preisverleihung, bei der den Dozent*innen Teilnahmezertifikate ausgestellt wurden. Es handelt sich bei diesen Bemühungen um einen anhaltenden Prozess.

Bildung als Medium des Wandels

Die Präsidentin der russischen Bildungsakademie Olga Wassiljewa bemerkte im russischen sozialen Netzwerk VKontakte: „Wir brauchen eine qualitativ hochwertige Ausbildung in Geschichte. Geschichte prägt die Einstellungen der Bürger*innen zur Gesellschaft, garantiert Kontinuität zwischen den Generationen und formt die Persönlichkeit der Bürger*innen und ihre Wahrnehmung von Ideen und Wertevorstellungen.“ Bildung wird schon seit langer Zeit genutzt, um sozialen Wandel zu bewirken und Identität zu stiften. Dass Russland ihr einen so zentralen Stellenwert einräumt, macht einerseits deutlich, dass es für den russischen Staat von immenser Bedeutung ist, die Ukraine nicht nur physisch zu kolonisieren, sondern auch in die Köpfe der Menschen einzudringen, und andererseits, dass Russland geschichtliche Bildung als geeignetes Mittel für einen solchen Wandel betrachtet.


Dr. Allyson Edwards ist Lehrbeauftragte an der Universität Warwick und Expertin für den Umgang mit Erinnerung, patriotische Bildungssysteme und historische Mythenbildung.