Russland, Dissens und Migration: Einblicke in die kulturelle Neugestaltung Berlins
Berlin ist seit jeher ein Zufluchtsort für russischsprachige Schriftsteller*innen – vom Exil der Revolution 1917 bis zu den Autor*innen, die heute Putins Kriegspolitik ablehnen. Mit der jüngsten Migrationswelle kommen auch literarische Perspektiven, die Identität, Widerstand und Zugehörigkeit neu verhandeln.
In ihrer Rezension des jüngsten Buches Exodus-22 der israelischen Autorin Linor Goralik beschreibt die russische Dichterin Polina Barskova die jüngste Welle der intellektuellen Emigration aus Russland: „Wir wissen, wo die Bruchlinie verlief. Aber was ist mit den anderen Linien? Jenseits des einen katastrophalen Ereignisses, das die moderne Geschichte Russlands in ein „Vorher“ und „Nachher“ geteilt hat, entstanden Millionen weiterer Linien, Millionen von Leben wurden zerstört. Wer wird für all diese Leben Rechenschaft ablegen, und wer wird ihre Geschichten erzählen?“
Berlin war schon immer ein Ort, an dem viele der Linien aus der zerbrochenen Geschichte Russlands wieder auftauchen. Muster der intellektuellen Migration durchdrangen das soziokulturelle Gefüge der Stadt schon lange vor dem aktuellen Krieg. Heute werden jeden Tag neue russischsprachige kulturelle Wege beschritten und zurückverfolgt, um alternative Narrative zu formen.
Nach der bolschewistischen Revolution von 1917 wurde Berlin zum Ziel vieler russischer Intellektueller, die sich dort niederließen oder die Stadt nur kurz besuchten. Unter ihnen waren die Schriftsteller*innen Vladimir Mayakovsky, Nina Berberova, Marina Tsvetaeva, Viktor Shklovsky und Vladimir Nabokov. Im Jahr 2025 beherbergt die Stadt Schriftsteller*innen, die sich gegen die von der Regierung des russischen Präsidenten Vladimir Putin verbreitete literarische Erzählung stellen und deren vollständige Invasion der Ukraine und den andauernden Krieg verurteilen.
Die jüngsten Migrationswellen russischer und russischsprachiger Schriftsteller*innen nach Berlin knüpfen an frühere Exilphasen an. Sie markieren jedoch auch eine neue Migrationserfahrung, insbesondere in Bezug auf die Antikriegshaltung der Autor*innen, ihr Zugehörigkeitsgefühl und Fragen der Identität.
Die fünfte Welle: Exil, Zensur und die Suche nach einer Stimme
Der kulturelle Raum Russlands, der zunehmend durch Zensur und die Verfolgung der Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, verweigert alternative Sichtweisen auf die Gegenwart und die Vergangenheit. Putins Regierung führt einen Kampf gegen alle, die öffentlich gegen die Invasion protestieren, darüber sprechen oder schreiben – oder es sogar wagen, sie als Krieg zu bezeichnen. Antikriegsbewegungen aller Art wurden strafrechtlich verfolgt, unter anderem wegen der Produktion von Materialien, die nach Ansicht der Regierung absichtlich „falsche Informationen” über die Aktivitäten der russischen Streitkräfte verbreiten.
Eine Vielzahl russischer Intellektueller, Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Dichter*innen hat ihr Land verlassen, wo ihre Veröffentlichungen eingestellt wurden. In vielen Fällen wurde der Verkauf ihrer Werke in Russland ausgesetzt, oft aufgrund von Zensur. Zu diesem Exodus, der als fünfte Welle der kulturellen Emigration bezeichnet wird, gehören prominente Persönlichkeiten wie Viktor Shenderovich, Lyudmila Ulitskaya, Maria Stepanova, Viktor Yerofeyev, und Dmitry Glukhovsky. Bemerkenswert ist, dass frühe Emigrant*innen wie Boris Akunin (das Pseudonym von Grigori Chkhartishvili) und Dmitry Bykov bereits vor dem Krieg begonnen hatten, das Land zu verlassen, und damit einen Präzedenzfall für nachfolgende Auswanderungswellen schufen.
In Berlin durchdringen viele Schichten der Migration das städtische Gefüge, wo sie sich überschneiden und koexistieren und so ein Geflecht des Widerstands bilden. Doch obwohl Emigrant*innen aus unterschiedlichen Gründen und zu unterschiedlichen Zeiten aus Russland vertrieben werden, sind sie in der Ablehnung Russlands und des Kriegs vereint. Berlin bewahrt nicht nur seine historische Rolle als Zentrum der russischen Emigrant*innenkultur, durch Initiativen, die die offizielle staatliche Narrative Russlands in Frage stellen, wird sie neu belebt.
Alternative Netzwerke: Berlins kulturelles Gefüge des Dissens
Russische Emigrant*innen in Berlin sind Teil einer hybriden, oft fragmentierten Kulturszene. Unter ihnen sind Schriftsteller*innen wie Stepanova, bekannt für ihre 2021 erschienenen Memoiren In Memory of Memory und ihren Roman Focus über Migration und Zugehörigkeit; Dinara Rasuleva, eine russischsprachige tatarische Schriftstellerin, die mit Sprachen, Migration und Identität experimentiert; und der Dichter Alexander Delphinov, Mitbegründer des Theaters Panda Platforma, einem Ort für „demokratisch denkende oppositionelle Künstler*innen, die in ihren Heimatländern keine Chance haben, ihr Publikum zu erreichen“ und ein Ort der „aktiv gegen die russische Staatspropaganda Stellung bezieht“.
Viele andere Linien verflechten sich in der Stadt, wie die der Buchhandlung Babel Books, die nach Kriegsbeginn gegründet wurde und heute als Anlaufstelle für Migrantenautor*innen dient, die sich offen gegen den Krieg aussprechen. Die Buchhandlung veranstaltet kulturelle Events und Buchvorstellungen, wie zum Beispiel die des Bandes Artists Against the Kremlin.
In diesem Jahr fand in Berlin auch die Bebelplatz Russian Book Fair statt, zu deren Zielen es gehört, Buchverboten entgegenzuwirken und „unzensierte russischsprachige Texte zu präsentieren, die als Reaktion auf Aggression, Gewalt und Desorientierung entstanden sind, um die Vergangenheit, die zum Krieg geführt hat, zu überdenken”. Die Messe umfasste Diskussionen über alternative Visionen der russischen Literatur und die Verleihung des Dar-Preises, einem unabhängigen Literaturpreis, der vom Schriftsteller Mikhail Shishkin ins Leben gerufen wurde und Autor*innen unterstützt, die eine russischsprachige Literatur anstreben, die „der Menschheit und nicht Diktaturen verpflichtet ist”.
Ein weiterer lebendiger kultureller Treffpunkt ist das Künstlerhaus Bethanien, in dem Initiativen wie die Ausstellung „No“ der Nachrichtenwebsite Meduza und die Ausstellung „Boxed“ der Journalistin Anna Narinskaya zu sehen waren, die sich gegen die Verletzung der LGBTQ+-Rechte in Russland richtet. Bemerkenswert ist auch die russisch-deutsche Zeitschrift „Berlin Berega“, die lange vor dem Krieg gegründet wurde und heute alternative russische und russischsprachige Stimmen im Exil unterstützt.
Diese Beispiele sind bei weitem keine vollständige Liste der Menschen und Ereignisse, die dazu beitragen, einen alternativen Ansatz an das Lesen, Produzieren und Verbreiten russischer und russischsprachiger Literatur zu entwickeln. Gemeinsam zeigen sie jedoch die intellektuelle Reaktion auf den Krieg: Sie verurteilen die Feindseligkeiten, lehnen Putins Regierung ab und bekräftigen den Glauben an ein neues Schicksal für die russischsprachige Literatur.
Ob diese alternativen Netzwerke von Stimmen eine solide und geschlossene kulturelle Gegenkraft bilden werden, ist eine offene Frage. Was heute zu beobachten ist, dass die Literaturschaffenden auf den historischen Moment reagieren und die verschiedenen Stränge russischer Geschichte artikulieren, die in Berlin zusammenlaufen, auseinanderlaufen und nebeneinander existieren.
Michela Romano ist Doktorandin an der Universität Bologna. Ihre aktuelle Forschung konzentriert sich auf zeitgenössische russische und russischsprachige Dissidentenliteratur, insbesondere die von Migrantenschriftsteller*innen in Berlin.