ZOiS Spotlight 14/2022

Putin vor Gericht?

Von Florian Jeßberger 13.04.2022
Ein Bild des italienischen Streetart-Künstlers Salvatore Benintende aka TVBoy in Barcelona. IMAGO / ZUMA Wire

Seit Kurzem hat das Gräuel einen Namen: Butscha. Der verschlafene Pendlervorort von Kyjiw, der einen Monat in den Händen der russischen Streitkräfte war. Nun sind die Streitkräfte weg. Geblieben sind mit Leichen gepflasterte Straßen. Leichen ohne Uniformen, teilweise gefesselt, offenbar hingerichtet. Und der Ruf wird lauter, diejenigen, die für die Verbrechen verantwortlich sind, zur Rechenschaft zu ziehen. Wie kann das gehen?

Die Sprache, in der das Recht Gräueltaten wie diejenigen von Butscha verhandelt, ist die des Völkerstrafrechts. Danach gilt: Täter schwerster Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes betreffen, sind direkt nach Völkerrecht verantwortlich. Bei Völkerrechtsverbrechen, also Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und dem Verbrechen der Aggression, ist das Schutzschild staatlicher Souveränität durchbrochen. Solche Verbrechen können weder durch Befehl noch durch staatliche Gesetze gerechtfertigt werden. Sie können vor internationalen Strafgerichten und vor den Gerichten jedes Staates verfolgt werden. Die Immunität, die der Verfolgung von staatlichen Hoheitsträgern vor ausländischen Gerichten sonst entgegensteht, greift nicht. Das ist das Erbe der Nürnberger Prozesse und inzwischen fester Bestandteil der internationalen Ordnung.

Völkerrechtsverbrechen in der Ukraine

Es gibt wohl keinen ernsthaften Zweifel, dass in der Ukraine Völkerrechtsverbrechen begangen worden sind – und noch begangen werden. Welche sind das?

Der Angriff Russlands auf die Ukraine, das Eindringen in souveränes Staatsgebiet und die massive Anwendung von Waffengewalt, verletzt grundlegende Regeln des Völkerrechts. Dies ist unbestritten. Nicht zuletzt die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat das in seltener Einmütigkeit Anfang März bekräftigt. Die von russischer Seite vorgeschobenen Rechtfertigungen – Verhinderung eines Völkermordes und Entnazifizierung der Ukraine – entbehren jeder Grundlage. Wer eine solche Angriffshandlung plant oder durchführt, macht sich wegen eines Aggressionsverbrechens strafbar. Als Täter erfasst werden diejenigen, die das politische oder militärische Handeln des Aggressorstaates tatsächlich lenken. Das wird man für einen kleinen Kreis um den russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin und diesen selbst annehmen dürfen. Strafbar macht sich übrigens auch, wer es einem anderen Staat erlaubt, sein Hoheitsgebiet zur Durchführung einer völkerrechtswidrigen Angriffshandlung zu nutzen – wie das Regime in Belarus.

Der Umstand, dass in der Ukraine Krieg – Jurist*innen sprechen von bewaffnetem Konflikt – ­herrscht, eröffnet den Anwendungsbereich des Kriegsvölkerrechts. Hier gilt zunächst: Im Krieg darf man töten. Jedoch nicht jeder: Töten dürfen nur Kombattanten, also als solche erkennbare Kämpfer. Und auch diese dürfen nicht mit allen Mitteln und nicht jeden töten. Grundsätzlich sind nur gegnerische Kombattanten legitime militärische Ziele. Jenseits dieses Bereichs beginnt die Verbotszone des humanitären Völkerrechts. Wer die grundlegenden Regeln des ius in bello vorsätzlich verletzt, muss mit Strafe rechnen. Als Kriegsverbrechen strafbar sind etwa gezielte Angriffe auf nichtmilitärische Ziele, wie Krankenhäuser, Theater und Schulen. Strafbar ist auch das vorsätzliche Töten und Misshandeln von Zivilist*innen, von Kriegsgefangenen und verwundeten Kämpfern der gegnerischen Seite. Täter solcher Verbrechen können einfache Soldaten sein, aber auch Befehlshaber und Regierungsmitglieder. Selbst Angehörige von Bürgerwehren und sogenannte freiwillige Kämpfer (auch solche aus dem Ausland) können wegen Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden. Und: Kriegsverbrechen können von allen Konfliktparteien begangen werden, unabhängig davon, wer „schuld“ am Krieg ist.

Nach allem, was man weiß, liegt auch die Annahme nicht fern, dass es in der Ukraine neben Aggressions- und Kriegsverbrechen auch zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekommen ist. Dazu zählen Tötungen, Folter, Vertreibung und Verschwindenlassen, wenn diese im Rahmen eines systematischen oder großangelegten Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen werden. Es gibt gute Gründe, einen solchen hier anzunehmen. Dagegen gibt es für die Annahme eines Völkermordes – jedenfalls bislang – wohl keine hinreichenden Anhaltspunkte, auch wenn einige Beobachter*innen bereits davon sprechen. Dazu müssten die Verantwortlichen auf russischer Seite es nämlich darauf angelegt haben, die Bevölkerung der Ukraine als eine nationale Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Ob dazu die Absicht der Zerstörung der Gruppe als soziale Einheit genügt, oder ob, wie die internationale Rechtsprechung meint, der Täter das Ziel haben muss, die Gruppe tatsächlich physisch auszulöschen, ist unter Jurist*innen umstritten. In jedem Fall ist es ausgesprochen schwierig, eine Zerstörungsabsicht tatsächlich nachzuweisen.

Strafverfolgung in Den Haag – und in Deutschland?

Welche Aussichten gibt es nun, die Täter tatsächlich zur Rechenschaft zu ziehen? Eine erste Adresse ist der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag. Dieser vor 20 Jahren eingerichtete und von über 120 Staaten getragene Gerichtshof ist zuständig für die Verfolgung und Aburteilung von Völkerrechtsverbrechen. Eine Anklage vor dem IStGH richtet sich – anders als das Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) der Vereinten Nationen, der in einer Eilentscheidung bereits angeordnet hat, dass Russland den Krieg stoppen muss – nicht gegen den Staat selbst, sondern gegen einzelne Personen. Eine stabile Grundlage hat die Zuständigkeit des IStGH, weil die Ukraine schon im Zusammenhang mit der Annexion der Krim erklärt hatte, dass sie die Gerichtsbarkeit des Strafgerichtshofes akzeptiert. Darauf, dass weder Russland noch die Ukraine Vertragsstaaten des IStGH sind, kommt es deshalb nicht an.

Tatsächlich hat die Anklagebehörde des IStGH bereits Ermittlungen wegen der aktuellen Vorgänge in der Ukraine eingeleitet. Gegenstand des Verfahrens sind Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermordtaten. Sollte sich der Verdacht gegen eine bestimmte Person erhärten, kann das Gericht einen Haftbefehl erlassen – der dann in über 120 Ländern der Welt zu vollstrecken ist. Über eigene Polizeikräfte verfügt der Gerichtshof nicht. Er ist also stets auf die Unterstützung durch die Staaten angewiesen.

Nicht Gegenstand der Ermittlungen des IStGH ist das Verbrechen der Aggression, obwohl es keine Zweifel an dessen Vorliegen gibt. Voraussetzung seiner Verfolgung wäre aber, dass entweder Russland dem Verfahren zustimmt oder der UN-Sicherheitsrat einen entsprechenden Beschluss fasst – beides ist bislang nicht geschehen und angesichts des Vetorechts Russlands im Sicherheitsrat auch nicht zu erwarten. Unter Jurist*innen werden deshalb verschiedene Vorschläge diskutiert, wie sich diese Lücke schließen ließe. Etwa durch ein Sondertribunal, das auf Grundlage eines Abkommens zwischen den Vereinten Nationen und der Ukraine eingerichtet werden könnte. Der Vorteil dieses Vorschlags ist, dass sich so der durch die Vetomacht Russland blockierte Sicherheitsrat umgehen ließe.

Nicht nur in Den Haag laufen derzeit Ermittlungsverfahren. Auch der Generalbundesanwalt in Karlsruhe hat ein Verfahren eröffnet. Ziel ist es, zunächst Beweise zu sammeln und zu sichern. Diese könnten später in einem Verfahren in Deutschland oder im Ausland verwendet werden. Grundlage für das Tätigwerden der Bundesanwaltschaft ist das Völkerstrafgesetzbuch. Danach können Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – nicht aber das Verbrechen der Aggression – selbst dann verfolgt werden, wenn sie im Ausland begangen wurden und ein Bezug zu Deutschland nicht besteht. Allerdings können vor staatlichen Gerichten, anders als vor dem IStGH, die höchsten Repräsentant*innen eines Staates, etwa Präsident Putin, nicht verfolgt werden. Jedenfalls nicht, solange sie im Amt sind.

Verdichtet sich der Verdacht gegen eine Person, ist es möglich, diese in Deutschland vor Gericht zu stellen. Dass das gelingen kann, ist nicht ausgeschlossen, obwohl die überwiegende Mehrheit der mutmaßlichen Täter dem Zugriff der deutschen Strafverfolgungsbehörden entzogen sind. Zigtausende von ukrainischen Geflüchteten befinden sich in Deutschland, darunter möglicherweise auch potenzielle Zeug*innen. In der Vergangenheit hat sich dies als Vorteil erwiesen und die in Deutschland geführten Verfahren, etwa gegen Angehörige des syrischen Sicherheitsapparates und des IS, überhaupt erst ermöglicht.

Das Völkerstrafrecht hält also Antworten auf die Gräueltaten in der Ukraine bereit. Man sollte sich allerdings davor hüten, die Leistungsfähigkeit des Strafrechts zu überschätzen. Auch das Völkerstrafrecht ist kein Allheilmittel. Aber seine Symbolkraft ist groß. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Täter eines Tages tatsächlich vor Gericht verantworten müssen, in der Ukraine, in Den Haag, in Deutschland oder anderswo. Beispiele dafür, dass selbst vermeintlich unantastbare Machthaber nach Ende ihrer Amtszeit zur Rechenschaft gezogen wurden, gibt es inzwischen einige: Augusto Pinochet, Slobodan Milosevic, Saddam Hussein, Hissene Habré, Omar Al Bashir. Die Liste wird wohl noch länger werden.


Florian Jeßberger ist Professor für Strafrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin.