ZOiS Spotlight 23/2022

Moskau in der Falle: Die Beziehungen zwischen Zentrum und Regionen nach Russlands Invasion in der Ukraine

Von Irina Busygina 15.06.2022
Sitzung des Staatsrats der Russischen Föderation, Mai 2022. IMAGO / SNA

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Laut Verfassung handelt es sich beim postsowjetischen Russland um eine Föderation. In der Praxis haben die politischen Beziehungen zwischen dem Zentrum und den Regionen jedoch keinen föderalen Charakter, sondern sind in hohem Maße zentralisiert. Unter den neuen Bedingungen, die durch die beispiellosen, nach der Invasion in der Ukraine gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen geschaffen wurden, bedarf es jedoch dezentralisierter Ansätze. Dabei reicht es nicht aus, dezentrale Strukturen bloß zu imitieren, sondern es werden wirkliche Anreize für regionale Gouverneur*innen benötigt, angesichts der Sanktionen eigene Überlebensstrategien und Formen der interregionalen Koordination zu entwickeln. In dieser Hinsicht sitzt Moskau in einer Falle: Einerseits wären die politischen Risiken der Dezentralisierung für die russische Führung zu hoch, andererseits würde es schwerwiegende sozioökonomische Folgen nach sich ziehen, auf sie zu verzichten.

Extreme politische Zentralisierung

Sowohl die zentralen als auch die regionalen Exekutivbehörden profitieren vom institutionellen Status Quo und unterstützen ihn deshalb. Bereits bestehende föderale und dezentrale Strukturen sind zu wichtigen Bestandteilen des institutionellen Systems geworden, die das autoritäre Regime Russlands stützen und seine politische und wirtschaftliche Stabilität gewährleisten. Das Regime hat es geschafft, den Föderalismus und bestimmte Formen der Dezentralisierung in nützliche Instrumente zu verwandeln, die Dominanz des politischen Zentrums aufrechtzuerhalten, politische Instabilität zu vermeiden und in Zeiten von Krise und politischem Versagen die Schuld regionalen Autoritäten zuzuschieben.

Die regionalen Führungen haben sich ihrerseits dem Kreml gegenüber vollkommen loyal gezeigt. Die amtierenden Gouverneur*innen folgen nicht nur den Befehlen und Vorschriften Moskaus, sondern haben auch ein persönliches Interesse an der Stabilität des undemokratischen politischen Systems. Vor allem haben sie das Interesse daran verloren, die Autonomie ihrer Regionen zu stärken und bei den Regionalwahlen wieder für einen fairen Wettbewerb zu sorgen. Den regionalen Machtgruppen mangelt es an eigener Legitimität und politischer Unabhängigkeit. Moskau bestimmt das Schicksal der Regionalpolitiker*innen vollständig – ob Amtszeiten, Versetzungen, Rücktritte oder sogar Verhaftungen und Verurteilungen für möglicherweise begangene Verbrechen wie Korruption, Finanzbetrug oder in Auftrag gegebene Morde. Die Gouverneur*innen müssen damit rechnen, dass sie jederzeit von Präsident Putin zum Rücktritt gezwungen und durch eine*n „vom Präsidenten ernannte*n geschäftsführende*n Gouverneur*in“ ersetzt werden können. Diese neu eingesetzten Gouverneur*innen gehen nach nur wenigen Monaten im Amt immer als Gewinner*innen aus den anschließenden Wahlen hervor.

Wie erwartet verlangt die russische Invasion der Ukraine von den Gouverneur*innen eine noch bedingungslosere, absolute Loyalität gegenüber dem Kreml, die sie auch bereits unter Beweis gestellt und erklärt haben, dass „schwierige Zeiten das russische Volk nur stärker zusammenschweißen“. Exzessive Loyalität taugt jedoch nicht mehr als Universalrezept, um den Gouverneur*innen ihr politisches Überleben zu sichern.

Schwerwiegende Folgen der Wirtschaftssanktionen für die Regionen

Die beispiellosen Sanktionen des Westens gegen Russland werden den Druck auf die russischen Regionen weiter erhöhen, auch wenn die Verluste, die sie verursachen werden, sehr ungleich über die verschiedenen Gebiete des Landes verteilt sein werden. Zwar werden alle Regionen mit schwerwiegenden wirtschaftlichen Einbußen zu kämpfen haben, den größten Schaden werden jedoch die am stärksten entwickelten und globalisierten Regionen des Landes davontragen. So erklärte zum Beispiel der Moskauer Bürgermeister Sobjanin, dass aufgrund des Rückzugs ausländischer Firmen in der Stadt mit einem Verlust von 200.000 Arbeitsplätzen zu rechnen ist.

Die Regierung in Moskau bemüht sich darum, die Situation für die Regionen abzufedern. Am 1. Mai 2022 unterzeichnete Präsident Putin ein föderales Gesetz, das „für das Jahr 2022 besondere Regeln für den Haushaltsvollzug im Rahmen des russischen Haushaltssystems einführt, deren Ziel es ist, angesichts des Drucks externer Sanktionen die finanzielle Stabilität der regionalen Budgets zu gewährleisten". Durch das Gesetz wird das Finanzministerium auch zur Vergabe von Krediten in Höhe von insgesamt 390,7 Milliarden Rubel aus den Mitteln des Bundeshaushalts ermächtigt, „damit die russischen Regionen ihre Schulden bei Kreditinstituten, ausländischen Banken und internationalen Finanzinstitutionen begleichen können. Das Gesetz befreit die russischen Regionen für das Jahr 2022 auch von der Verpflichtung, Schulden für frühere Kredite aus dem Bundeshaushalt zurückzuzahlen.“ Gleichzeitig nehmen jedoch die Verantwortungen der Gouverneur*innen zu (eine Strategie, die bereits zu Beginn der Covid-19-Pandemie genutzt wurde). Wladimir Putin kündigte am 16. März 2022 an, den Leiter*innen der russischen Regionen zusätzliche Machtbefugnisse einzuräumen. Dabei betonte er, dass die Gouverneur*innen „dazu befähigt sein werden, flexible und zügige Entscheidungen zu treffen, um ihre Bürger*innen, die Wirtschaft und den Sozialbereich zu unterstützen, die der realen Situation vor Ort Rechnung tragen.“ Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass es dabei nicht um eine wirkliche Dezentralisierung geht, sondern bloß darum, politische Verantwortung und Schuld abzuschieben.

Was jedoch während der Covid-19-Krise, als es darum ging, eine Pandemie zu überstehen, mehr oder weniger funktioniert hat, wird nun, da die Regionen ihre gesamte Wirtschaft umstrukturieren, neue Entwicklungsmotoren finden und die Gouverneur*innen Eigeninitiative und Koordinationsfähigkeit unter Beweis stellen müssen, wahrscheinlich nicht gelingen. Schließlich sind die Beziehungen zwischen dem Zentrum und den Regionen politisch so aufgebaut, dass sie Eigeninitiative und Koordination eher behindern, als sie zu ermutigen.

Das Hauptproblem der Beziehungen zwischen dem russischem Zentrum und den Regionen liegt darin, dass die russische Führung ihre dominante Stellung innerhalb der territorialen Struktur des Landes verteidigen muss und deshalb nur begrenzte Formen der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung in den Regionen zulassen kann. Moskau muss die Regionen in gehorsamer Abhängigkeit halten. Vor allem darf der Kreml nicht zulassen, dass sich horizontale Formen der Kooperation und Koordination zwischen den einzelnen Regionen ausbilden, da sonst ihre Abhängigkeit von Moskau sinken würde. Das Zentrum darf sich deshalb auch keine Entwicklungsvorhaben oder Reformen erlauben, die die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Regionen stärken würden. Mit noch nie dagewesenen Sanktionen konfrontiert sitzt der Kreml nun in der Falle: Die wirtschaftliche Situation verlangt nach einer Dezentralisierung, die das politische System des Landes nicht erlaubt.


Irina Busygina ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft und internationale Angelegenheiten an der Higher School of Economics in Sankt Petersburg. Außerdem ist sie Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des ZOiS.