ZOiS Spotlight 14/2025

Identität spricht: Wie Sprachideologien die Ukraine verändern

Von Liudmyla Pidkuimukha 16.07.2025

Ukrainisch ist für Ukrainer*innen längst mehr als nur die Staatssprache. Es ist zur Stimme des Widerstands geworden, zu einem Ausdruck der Heilung, der kulturellen Identität und der Abgrenzung vom russischen Imperialismus. Doch wie tiefgreifend und dauerhaft ist diese Abkehr vom Russischen wirklich?

Ein russischer Buchstabe auf einem Schild wurde durchgestrichen und durch einen ukrainischen ersetzt. Eine Frau macht ein Foto davon mit einem Smartphone.
Im Juli 2024 eröffnete in Dnipro in der Ostukraine eine Ausstellung zu Sprache und Dekolonisierung. IMAGO / Avalon.red

„Die ukrainische politische Nation bildet sich dank der Revolution der Würde und des Krieges”, so der Historiker Timothy Snyder. Zu dieser Beobachtung lässt sich hinzufügen, dass sich die ukrainische Identität, Kultur und Sprache während des von Russland im Jahr 2014 begonnenen Krieges ebenfalls verändert haben. Seit der vollumfassenden Invasion der Ukraine im Februar 2022 haben sich Sprachideologien – die Überzeugungen, Werte und Emotionen, die Menschen mit Sprache verbinden –in der gesamten ukrainischen Gesellschaft tiefgreifend verändert.

Diese Entwicklung spiegelt sich in landesweiten Umfragen, persönlichen Geschichten, den Medien und kulturellen Ausdrucksformen wider. Die Schlüsselfragen lauten: Wie sieht dieser Wandel in der Praxis aus und was könnte er für die Zukunft der Ukraine bedeuten?

Hin zur ukrainischen Sprache: Strategien und Entwicklungen

Umfragedaten zeigen einen klaren Trend: In der Ukraine, wo sowohl Ukrainisch als auch Russisch gesprochen wird, wechseln seit Februar 2022 immer mehr Menschen zur ukrainischen Sprache. Zugleich wird zunehmend die Ideologie „eine Nation – eine (Staats-)Sprache“ unterstützt. Bereits bevor das wegweisende Gesetz zum Schutz und zur Förderung der ukrainischen Sprache 2019 verabschiedet wurde, sprachen sich immer mehr Menschen dafür aus, dass Ukrainisch die einzige Staatssprache sein sollte. Den Status bestätigte das Gesetz offiziell. Ein Beauftragter für den Schutz der Staatssprache sorgt seither dafür, dass es umgesetzt wird.

In einer Umfrage vom Dezember 2022 gaben 41 Prozent der Befragten an, ausschließlich Ukrainisch zu sprechen, weitere 17 Prozent taten dies „in den meisten Situationen“. Demgegenüber sprachen nur sechs Prozent ausschließlich Russisch, und neun Prozent überwiegend Russisch. Weitere 24 Prozent nutzten beide Sprachen etwa gleich. Im Vergleich zu 2017 stieg der Anteil derjenigen, die nur oder überwiegend Ukrainisch sprachen, um neun Prozent, während der Anteil der russischsprachigen Personen um 11 Prozent zurückging.

Die regionale Aufteilung ist noch auffälliger: Selbst in den überwiegend russischsprachigen Regionen im Osten und Süden der Ukraine ist der Anteil der ukrainischsprachigen Bevölkerung inzwischen genauso hoch oder sogar höher als der der russischsprachigen. Während 95 Prozent der Befragten im Westen des Landes angaben, fließend Ukrainisch zu sprechen, lag dieser Wert im Zentrum bei 65 Prozent, im Süden bei 60 Prozent und im Osten bei 50 Prozent. In diesen drei Regionen gaben viele Befragte an, dass ihre Ukrainischkenntnisse zwar für den Alltag ausreichten, sie jedoch Schwierigkeiten hätten, sich zu Fachthemen zu äußern. Im Westen berichteten hingegen nur vier Prozent von solchen Einschränkungen.           

Für diejenigen, die ihr Ukrainisch verbessern möchten, gibt es in allen Regionalzentren und kleineren Städten kostenlose Sprachkurse – darunter auch spezielle Programme für Militärangehörige. Verschiedene Bürger- und Bildungsinitiativen wie Perekhod’ na Ukraїnsku (Wechsle zu Ukrainisch), Ye-Mova und die Bewegung Yedyni (Vereint) bieten ebenfalls kostenfreie Kurse an und unterstützen Menschen dabei, psychologische Hürden beim Übergang zur ukrainischen Sprache zu überwinden.

Ukrainisch in Literatur, Wirtschaft und Popkultur

Die symbolische Kraft des Sprachwechsels zeigt sich besonders deutlich bei ukrainischen Schriftsteller*innen. Einige von ihnen, Volodymyr Rafeenko, Olena Stiazhkina und Iya Kiva, wechselten vom Russischen zum Ukrainischen, nachdem Moskau ihre Heimatstädte in der ostukrainischen Region Donezk besetzt hatte. In einem Interview sagte Rafeenko, die ukrainische Sprache sei für ihn zu einer Art „Medizin“ geworden, um seine „verwundete und blutende Seele“ zu heilen. Für diese Autor*innen ist Sprache nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern auch eine Form emotionaler und politischer Heilung – ein bewusster Bruch mit einem imperialen Erbe sowie ein Mittel der Sicherheit.

Dieser Bruch erstreckt sich auch auf die Geschäftswelt. Während Ukrainisch zu Sowjetzeiten als Bauernsprache galt, hat es heute den Status einer Sprache der Führung und der Widerstandsfähigkeit. Nach der vollumfassenden Invasion nahmen zahlreiche Führungskräfte und Unternehmer*innen die ukrainische Sprache an – oft mit der Begründung, dass sie sich damit vom russischen Einfluss distanzieren wollten. Dieser Wechsel war nicht nur pragmatisch, sondern auch ideologisch motiviert: Die Sprache diente als Abgrenzung, als verbindendes Symbol und als kulturelles Bollwerk. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Magazin Forbes Ukraine, das von 2011 bis 2015 nur auf Russisch erschien, dann zweisprachig, und seit März 2022 ausschließlich auf Ukrainisch.

Veränderte Sprachideologien zeigen sich auch in der ukrainischen Popkultur. Influencer, YouTuber und Popstars haben öffentlich zum Ukrainischen gewechselt. Einige haben frühere russischsprachige Lieder mit ukrainischen Texten neu veröffentlicht und ihren Werken damit ein zweites Leben gegeben. Der Popsänger Volodymyr Dantes hat sich sogar dafür entschuldigt, in der Vergangenheit russischsprachige Musik gemacht und Russisch gesprochen zu haben. Der Wandel ist jedoch weder einheitlich noch unumkehrbar. Mehrere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die 2022 zur ukrainischen Sprache gewechselt hatten, posten in den sozialen Medien inzwischen wieder auf Russisch.

Die ukrainische Schriftstellerin und Sängerin Irena Karpa beobachtet, dass in Kyjiw, wo die Bevölkerung nach der vollumfassenden Invasion fast ausschließlich Ukrainisch sprach, inzwischen wieder mehr Russisch zu hören ist. Sie fragt sich, ob dieser Wandel von Menschen ausgeht, die aus Angst Ukrainisch gesprochen haben, von verdeckten Russland-Sympathisant*innen oder von Menschen, die sich nicht mehr gezwungen sehen, ihre Zugehörigkeit zu demonstrieren und zu ihrer vertrauten Alltagssprache zurückzukehren. Diese Ambivalenz verdeutlicht, dass Sprachideologien nicht statisch sind. Sie sind dynamisch und werden oft durch emotionale, politische und soziale Umstände geprägt.

Die neue sprachliche Realität der Ukraine

Die Entwicklung der Sprachideologien in der Ukraine ist weiterhin offen. Es ist unmöglich, vorherzusagen, wie sie sich in einem Jahr oder nach Kriegsende entwickeln werden. Doch eines ist klar: Die Ukraine hat eine Schwelle überschritten. Das Erbe der russischen Sprache und des russischen Imperiums ist nicht vollständig beseitigt, aber grundlegend infrage gestellt. Die Ukrainer*innen haben begonnen, die symbolischen Grundlagen des imperialen Einflusses zu beseitigen – nicht nur, indem sie die Sprache ändern, die sie sprechen, sondern auch, indem sie ihrer Sprache eine neue Bedeutung geben.

In einer Zeit der Zerstörung und Vertreibung wird die ukrainische Sprache neu definiert – als Sprache der Einheit, der Selbstbestimmung und des Widerstands. Ob dieser Wandel Bestand haben wird, hängt von den alltäglichen Entscheidungen von Millionen Ukrainer*innen ab.


Dr. Liudmyla Pidkuimukha ist Soziolinguistin und Slawistin mit den Schwerpunkten Sprachpolitik, Ideologie und Kulturwissenschaften. Derzeit ist sie Fellow des Kompetenzverbunds Interdisziplinäre Ukrainestudien Frankfurt (Oder) – Berlin (KIU).