ZOiS Spotlight 42/2021

Die systematische Diskriminierung von Roma in Griechenland

Von Christos Varvantakis 24.11.2021
Infolge des Todes eines 18-jährigen Rom-Jugendlichen durch Polizeischüsse kam es in Griechenland zu Ausschreitungen. IMAGO / ANE Edition

In den frühen Morgenstunden des 23. Oktober 2021 wurde der 18 Jahre alte Rom Nikos Sampanis in Athen von der Polizei erschossen. Seinem Tod ging eine Verfolgungsjagd voraus, in deren Verlauf die Polizist*innen das gestohlene Auto, mit dem er unterwegs war, massiv unter Beschuss nahmen. Insgesamt gaben sie 38 Schüsse auf das Fahrzeug ab. Seine zwei Beifahrer und er waren zwischen 16 und 18 Jahren alt und unbewaffnet. Autodiebstahl mag ein vergleichsweise geringes Vergehen sein, in Griechenland scheint es jedoch bereits auszureichen, um als Rom*ni dafür getötet zu werden.

Nach dem Vorfall veröffentlichte Dokumente gaben einen Einblick in die interne Kommunikation der Polizei und offenbarten einige problematische Details, unter anderem, dass die beteiligten Polizist*innen wussten – und sich untereinander darüber austauschten –, dass es sich bei den Insassen des Autos um Roma handelte. Die Polizist*innen behaupteten, der Fahrer habe das Auto in Richtung ihrer Motorräder gelenkt, und deuteten damit an, dass sie in Notwehr gehandelt hätten. Einer der Passagiere des Autos erklärte später, dass sie das Fahrzeug erst in Richtung der Beamt*innen gelenkt hätten, nachdem die Polizei angefangen hatte auf sie zu schießen – aus Angst um ihr Leben.

Rassismus auf allen Ebenen der Gesellschaft

Der Tod von Nikos Sampanis hat ein weiteres Mal den tiefverwurzelten strukturellen und gesellschaftlichen Rassismus offengelegt, dem Rom*nja in Griechenland ausgesetzt sind. Unmittelbar nach dem Vorfall kursierten in den Massenmedien Berichte, denen zufolge der Fahrer des Autos ein bekannter Krimineller gewesen wäre, der die Polizist*innen angegriffen hätte, bevor sie das Feuer eröffneten. Diese Behauptungen erwiesen sich durch eine Reihe an Beweisen schließlich als falsch. Irreführende Medienberichte wie diese sind nicht nur symptomatisch dafür, wie weit rassistische Vorurteile gegenüber Rom*nja in der griechischen Gesellschaft verbreitet sind, sondern tragen auch dazu bei, diese Vorurteile weiter zu verfestigen und rassistische Gewalt zu legitimieren.

Einige Stunden nach der Schießerei verteidigte der griechische Minister für Entwicklung und Investitionen Adonis Georgiadis auf Twitter die Polizist*innen, die auf die Jugendlichen geschossen hatten, und lobte sie für ihr Vorgehen: „Es ist vollkommen offensichtlich, dass die Polizist*innen eine gute Arbeit geleistet und sowohl ihr eigenes Leben als auch die Gesellschaft beschützt haben, indem sie sich selbst verteidigten. Gut gemacht.“

Ähnlich reagierte der Minister für Bevölkerungsschutz Takis Theodorikakos, indem er die beteiligten Polizist*innen besuchte, um ihnen seine moralische Unterstützung anzubieten. In den Tagen und Wochen nach der Schießerei trendete auf Twitter der Hashtag #withthepolice, mit dem Nutzer*innen ihre Unterstützung für die Polizei ausdrückten, während gleichzeitig verstörende Hassbotschaften gegen Rom*nja im Internet kursierten. Nach der Veröffentlichung der internen Polizeikommunikation wurden die betreffenden Beamt*innen von der Staatsanwaltschaft vorgeladen, um vor Gericht zu den Ereignissen jener Nacht auszusagen. Dabei versammelte sich vor dem Gerichtsgebäude eine Menschenmenge, zu der auch viele Polizeikolleg*innen gehörten. Sie skandierten Parolen zur Unterstützung der Beamt*innen, die sie als Held*innen bezeichneten.

Von außen betrachtet könnte man sich fragen, was genau daran heldenhaft sein soll, auf drei unbewaffnete junge Menschen zu schießen und einen von ihnen zu töten. Die Antwort hat möglicherweise mit der Identität derjenigen zu tun, auf die geschossen wurde, und ihrem Status innerhalb der griechischen Gesellschaft.

Eine marginalisierte Bevölkerungsgruppe

Geschätzte 265.000 Rom*nja leben in Griechenland und machen damit etwa 2,5 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Sie sind ein wichtiger Bestandteil der griechischen Gesellschaft und überwiegend griechische Staatsbürger*innen. Trotzdem werden sie kaum oder besser gesagt vor allem negativ wahrgenommen. Umfragen des Eurobarometers 2019 zeigen, dass die Diskriminierung von Rom*nja die häufigste Form von Diskriminierung in Griechenland darstellt: 82 Prozent der griechischen Befragten waren der Meinung, dass sie in ihrem Land weitverbreitet ist, verglichen mit einem EU-weiten Durchschnitt von 61 Prozent. Eine Umfrage des Pew Research Centers ergab, dass 72 Prozent der Griech*innen negative Ansichten über Rom*nja haben.

Während der Zeit der Austeritätspolitik nach der Finanzkrise von 2008 lag das Armutsrisiko unter den griechischen Rom*nja mit 95 Prozent deutlich über dem der Bevölkerung Griechenlands insgesamt, das knapp über 20 Prozent betrug. Probleme wie Marginalisierung, infrastrukturelle Diskriminierung und eine hohe Analphabetismusrate hängen auch mit den schlechten Lebensbedingungen der griechischen Rom*nja zusammen, aufgrund derer sie zudem einem bedenklichen Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind. In den Lagern und Siedlungen außerhalb der urbanen Zentren sind die Lebensbedingungen oft so schlecht, dass sie von einem Beobachter als eine „Schande für die Menschenwürde und die Menschenrechte“ beschrieben wurden.

Dimitrios Bourikos war Koordinator des Forums für die soziale Integration der Rom*nja von Westattika, einer mittlerweile aufgelösten regionalen Initiative. Er ist der Meinung, dass „der Status der Rom*nja in der Öffentlichkeit zu einem Synonym für kriminelle Marginalität geworden ist“. Dadurch werden nicht nur die Probleme, mit denen Rom*nja konfrontiert sind, unsichtbar gemacht, sondern auch der Hass und die Gewalt verharmlost, unter der sie zu leiden haben.

Ein europäisches Problem

Die Lage der Rom*nja in Griechenland ist verheerend. Aber auch in anderen Teilen Europas ist sie nicht viel besser. In der Umfrage des Eurobarometers 2019 gaben 60 Prozent der griechischen Befragten an, dass sie sich sehr unwohl damit fühlen würden, wenn ihr Kind sich in eine*n Angehörige*n der Rom*nja-Minderheit verlieben würde. Im EU-Durchschnitt war der Anteil mit 30 Prozent zwar niedriger, trotzdem aber immer noch erschreckend hoch. Die Lebensbedingungen der europäischen Rom*nja, die von ihnen erfahrene soziale Ausgrenzung und Diskriminierung, sind eine Schande. Wie es ein Wissenschaftler ausdrückt: Liest man den Bericht von Amnesty International über die rechtliche Lage der europäischen Rom*nja und die von ihnen erlebte Diskriminierung, könnten einem kurz Zweifel kommen, ob es in dem Bericht wirklich um Europa geht.


Christos Varvantakis ist von September 2021 bis Februar 2022 als Gastwissenschaftler am ZOiS tätig. Er hat einen Hintergrund in Soziologie und Sozialanthropologie und hat an der Freien Universität Berlin promoviert. Er ist Co-Investigator des Children’s Photography Archive, das vom Europäischen Forschungsrat (European Research Council, ERC) finanziert wird.