ZOiS Spotlight 30/2022

Die Rolle von Think Tanks in der russischen Außenpolitik

Von Felix Riefer 21.09.2022
Monument des ehemaligen russischen Außenpolitikers Ewgenij Primakow vor dem Außenministerium in Moskau. IMAGO / Russian Look

Die Beobachtung der internationalen Beziehungen und der auswärtigen Politik von Staaten ist seit geraumer Zeit eine Domäne von sogenannten Think Tanks (dt. Denkfabriken). Schließlich können selbst Regierungen die zunehmende Komplexität der globalisierten, digitalisierten und technologisierten Welt kaum noch erfassen. Folglich sind moderne Staaten auf die Analyse und Beratung, aber auch auf Lobbytätigkeiten dieser politischen Forschungsinstitute angewiesen. Dies trifft sowohl auf freiheitlich verfasste Demokratien wie auf autoritäre Regime zu.

So werden Think Tanks als Sammler und Filter von Informationen sowie als Analyse- und Beratungsinstitutionen zwischen Politik und Wissenschaft immer sichtbarer. Die russische Think-Tank-Landschaft hat bisher jedoch nur wenig Beachtung gefunden. Eine freie Entfaltung von Think Tanks in Russland war nur in einem sehr kurzen Zeitraum zwischen Anfang 1990 und Anfang 2000 möglich. Spätestens seit 2005 sind vom Kreml unabhängige politisch aktive Institutionen im heutigen Russland kaum realisierbar. Dennoch zählt das Think Tanks and Civil Societies Program in Russland über 200 Denkfabriken.

Außenpolitik unterliegt in Russland dem Präsidenten und wird entsprechend aus der Präsidialadministration und nicht aus dem Außenministerium oder der Föderalversammlung heraus bestimmt. Von daher ist es nur folgerichtig, sich die Denkfabriken entlang der Fäden anzuschauen, die in die Präsidialadministration führen.

Missionarisch-imperiales Verständnis von russischer Staatlichkeit

Das Außenministerium übernimmt eine stärker ausführende Funktion. Dabei unterhält es Forschungs- und Analysestrukturen und ist mit der eigenen Universität, dem Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO), zentral daran beteiligt, den diplomatischen Nachwuchses zu formen. Folglich haben die meisten in der russischen Außenpolitik tätigen Karrierediplomat*innen ihre Sozialisation und Ausbildung an der MGIMO durchlaufen. So wird ein missionarisch-imperiales Verständnis von russischer Staatlichkeit an die künftigen Funktionseliten tradiert.

Die Präsidialadministration unterhält des Weiteren eine eigene ihr unmittelbar untergeordnete Denkfabrik, das Russländische Institut für strategische Studien (RISI). RISI-Mitarbeiter*innen hatten unter der Leitung des Geheimdienstlers Leonid Reschetnikow zwischen 2009 bis 2017 verstärkt als Advokat*innen der neuen nationalistischen Politik des Kremls agiert. So wurden genau hier die von den russischen Staatsmedien intensiv gesetzten und gerahmten Themen wie die einer angeblichen Russophobie, die Preisung einer Russischen Welt oder die Leugnung einer eigenständigen Ukraine sichtbar behandelt. Besonders skurril war ein Bericht, der sich mit dem Immunschwächevirus HIV beschäftigte und behauptete, dass dieses Virus keine echten Russ*innen anstecken könne und ohnehin sei der Kampf gegen AIDS in den Weltmedien ein Element des Informationskrieges gegen Russland. Neben diesen befremdlichen Thesen mussten beispielsweise im Nachgang zu einem anderen RISI-Bericht im Februar 2014 aus dem Ausland (teil-)finanzierte Denkfabriken in Russland ihre Arbeit stark einschränken oder wurden zu unerwünschten Organisationen erklärt.

Eine weitere Kategorie von Think Tanks im russischen Kontext können am besten als stark unter staatlicher Kontrolle stehende NGOs charakterisiert werden. Diese fungieren insbesondere als Fürsprecher- und Interessensgruppen; sie werben für Narrative des Kremls und seine Werte im Ausland. Ein Beispiel hierfür ist die Stiftung Russische Welt als sichtbarstes Projekt der Macht- und Kultureliten. Sie wird vom einflussreichen Regimefunktionär Wjatscheslaw Nikonow geleitet, der neben zahlreichen prestigeträchtigen Ämtern auch eine Primetime-Show (Great Game) im russischen Ersten Kanal hat, die im Format einer Talkshow Kreml-Propaganda insbesondere im Kontext der internationalen Beziehungen betreibt. So werden auch in Deutschland beispielsweise über fünf Sprachzentren der Stiftung in Nürnberg, Dresden, Hamburg, Mainz und Berlin auf eine unterschwellige Weise imperial russisch-sowjetische Positionen vermittelt. Andere Vereine, die Gelder aus Kulturfördertöpfen des Kremls erhalten, organisierten und mobilisierten prorussische Autokorsos in deutschen Städten im Nachgang zum Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022.

Flaggschiffinstitution einer verbotenen Disziplin

Die ehemalige Flaggschiffinstitution der zunehmend entmachteten Akademie der Wissenschaften ist das Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMEMO). Eine Reihe bekannter russischer/sowjetischer regionalwissenschaftlicher Forschungsinstitute wurde im Laufe der Jahre aus dem IMEMO herausgegründet. Das wissenschaftliche Studium und die Ausbildung im Bereich der internationalen Beziehungen blieben jedoch während der Sowjetzeit auf wenige Institutionen in Moskau beschränkt, namentlich das IMEMO und die oben bereits genannte Universität des Außenministeriums MGIMO. Schließlich war die Beschäftigung mit Politikwissenschaften im sozialistischen Land verboten. Die schrittweise Etablierung und Legalisierung der akademischen Disziplin erfolgte entsprechend innerhalb des IMEMO und des MGIMO, während die Institutionen selbst immer mehr zu dem wurden, was wir heute als Think Tanks bezeichnen. Nach dem Ableben der zentralen Vordenkerikone der russischen Außenpolitik, Ewgenij Primakow, wurde das IMEMO 2015 nach ihm benannt und erhält seitdem eine neue Aufmerksamkeit vonseiten des Kremls. Durch seine akademisch geprägte Offenheit bedient das IMEMO die Rolle des Advocatus Diaboli im Rahmen der Analyseinfrastruktur Russlands.

Anfang der 1990er gründeten die entmachteten Sicherheitseliten der gerade untergegangenen Sowjetunion einen Verein: den Rat für Außen- und Verteidigungspolitik (SWOP). In der Folge wurden in diesem Dunstkreis die heute praktizierten antiwestlichen und letztlich revisionistischen Ideen Moskaus geprägt und formuliert. Selbst die ebenfalls Anfang der 1990er im Sinne der liberalen Transformation gegründete Moskauer Higher School of Economics (HSE) wurde schrittweise von führenden Vertretern dieser Struktur gekapert. Die sogenannte Wende nach Osten bzw. Wende zur nicht-westlichen Welt lässt sich hier besonders an der schillernden Persönlichkeit, dem SWOP-Mitbegründer Sergei Karaganow deutlich konturieren. Er leitete bis vor Kurzem als Dekan die HSE-Fakultät für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen. In diesem Kontext wird auch die Zeitschrift Russia in Global Affairs herausgegeben, die von Wladimir Putin in einer Dankesrede an den SWOP lobend hervorgehoben wurde.

Bereits getroffene Entscheidungen sollen sozialisiert werden

Think Tanks agieren in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis zwischen Wissen und Macht, als Brücken zwischen Wissenschaft und Politik. Dabei nehmen sie neben ihrer wissenschaftlich-analytischen Arbeit zunehmend auch Einfluss auf politische Entscheidungsträger. Darüber hinaus erbte Russland die zur Sowjetzeit durch den politisch-ideologischen Komplex de facto vorherrschende Zwangsfusion von Wissen und Macht, die heute wieder immer deutlicher forciert wird und eine zunehmende Kontrolle von Produktion und Verbreitung von Ideen bedeutet.

Insgesamt erfüllt der Beratungsprozess gerade für das autoritäre Regime Russlands den wichtigen Aspekt der Sozialisierung der getroffenen Entscheidungen. Denn Denkfabriken in Russland werden vom Kreml kontrolliert. Sie sind an den Staat angebunden und werden von ihm gesteuert. Einerseits will und braucht der Kreml Beratungen von ihnen, aber vor allem sollen sie zuvor festgelegte Positionen verankern und verbreiten. Der Beratungsprozess dient so der Festigung von Gefolgschaft und Loyalität bei den Funktionseliten.


Dr. Felix Riefer ist ein Bonner Politikwissenschaftler. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Russland, der postsowjetische Raum und die Forschung zu russlanddeutschen (Spät)-Aussiedler*innen. Kürzlich erschien sein Buch „Russlands Außenpolitik unter Putin 2000–2018: Welchen Einfluss haben russische Think Tanks auf die auswärtige Politikgestaltung des Kremls?“