ZOiS Spotlight 33/2022

Die Rolle von Belarus in Russlands Krieg gegen die Ukraine

Von Nadja Douglas 02.11.2022
Der belarusische Machthaber Lukaschenka (Mitte) inspiziert die gemeinsame Militärübung Zapad-2021 zwischen Russland und Belarus. IMAGO / Xinhua

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

„Wenn du Frieden willst, bereite dich auf Krieg vor“. Mit diesen vielzitierten Worten, versuchte der belarusische Machthaber Aljaksandr Lukaschenka bei einer Sicherheitssitzung am 10. Oktober die Bildung eines gemeinsamen regionalen Truppenverbands aus russischen und belarusischen Einheiten zu rechtfertigen. Als Begründung gab er an, dass die Ukraine „Angriffe auf belarusisches Territorium nicht nur diskutieren, sondern planen“ würde. Sieben Tage später kündigte das belarusische Verteidigungsministerium an, dass im Rahmen dieser Neugruppierung gemeinsame Militärübungen abgehalten werden würden.

Über Monate hinweg hat das belarusische Regime widersprüchliche Signale gesendet, wie es zum russischen Krieg gegen die Ukraine steht. Einerseits hat Lukaschenka sich die aggressive Rhetorik des Kremls gegen die Ukraine und den Westen zu eigen gemacht und russischen Truppen erlaubt, belarusisches Territorium als Rückzugsgebiet zu nutzen. Andererseits wird er nicht müde zu behaupten, dass Belarus eine rein defensive Haltung verfolge. Die Frage, ob Belarus zur Kriegspartei im Feldzug des Kremls in der Ukraine werden könnte wird derzeit intensiv von internationalen Expert*innen und Medien diskutiert. Ein Blick auf die bisherige Geschichte der militärischen Zusammenarbeit zwischen Russland und Belarus kann dabei helfen zu beurteilen, wie belastbar diese Beziehung gegenwärtig ist.

Militärische Zusammenarbeit zwischen Russland und Belarus

Seit den frühen 1990er-Jahren ist das Verteidigungsbündnis innerhalb der Russisch-Belarusischen Union der kleinste gemeinsame Nenner in den Beziehungen der beiden Länder. Gemeinsam abgehaltene Militärübungen wie Sapad (Westen) und Schtschit Sojusa (Schild der Union) wurden als tragende Säule dieser strategischen Partnerschaft selbst dann aufrechterhalten, als die gegenseitigen Beziehungen an einem Tiefpunkt angelangt waren.  Die Verteidigungsunionsieht die Koordination der Verteidigungsrichtlinien, gegenseitige Militärhilfe und eine vereinheitlichte Militärgesetzgebung in beiden Ländern vor. In den frühen 2000er-Jahren wurde ein gemeinsames Oberkommando für die Luftwaffe sowie ein regionaler Truppenverband als Bestandteil der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) eingerichtet. Bisher hat dieser Verband nur auf dem Papier existiert, ist nun aber wieder Gegenstand der aktuellen Diskussion.

Das Jahr 2022 brachte dann entscheidende Veränderungen mit sich. Zunächst trat innerhalb des Unionsstaats eine neue Militärdoktrin in Kraft. Wie Beobachter*innen bemerkt haben, war die Doktrin, die vor der gemeinsamen Militärübung Sojusnaja Reschimost (Entschlossenheit der Union) im Februar bekanntgegeben wurde, nicht nur ein Vorbote der anschließenden Übung, sondern auch des bevorstehenden Kriegs gegen die Ukraine. Die ebenfalls im Februar in Belarus erlassenen Verfassungsänderungen räumten Russland nicht nur das Recht ein, dauerhaft Truppen auf belarusischem Gebiet zu stationieren, sondern setzten auch dem atomwaffenfreien Status des Landes ein Ende und erklärten damit die Verpflichtungen, die Belarus 1994 im Rahmen des Budapester Memorandums eingegangen war, de facto für nichtig. Lukaschenka musste im Zuge dessen seinen langjährigen Widerwillen gegen einen dauerhaften Luftwaffenstützpunkt Russlands auf belarusischem Territorium aufgeben. Seit Juli 2022 ist unter anderem der Luftwaffenstützpunkt Prybytki unter russischer Kontrolle.

Wahrscheinlichkeit einer belarusischen Intervention

Seitdem Lukaschenka die Bildung eines gemeinsamen regionalen Truppenverbands angekündigt hatte, gab es Berichte über russische Truppen und Ausrüstung, die nach Belarus verlegt wurden. Das belarusische Verteidigungsministerium erwartet bis zu 9000 russische Soldat*innen. Außerdem gibt es Anzeichen dafür, dass Belarus zugestimmt hat, sich an der Ausbildung russischer Rekruten in neu geschaffenen gemeinsamen militärischen Trainingszentren zu beteiligen. Auch wurde die Gefechtsbereitschaft der belarusischen Truppen überprüft und Reisebeschränkungen für Angehörige der Sicherheitskräfte, vor allem für Wehrpflichtige und Reservisten erlassen.

Trotz alledem gibt es gute Gründe, warum man in Minsk zögert, aktive Kriegspartei zu werden. Erstens sind die Voraussetzungen für eine Intervention in der Ukraine aus nördlicher Richtung heute noch schlechter als im Februar. Die Ukraine hat in den letzten Monaten Vorkehrungen getroffen, um die gemeinsame Grenze mit Belarus zu sichern. So wurden zum Beispiel Teile der Oblast Wolyn vermint sowie Brücken gesprengt.

Zweitens wurde die belarusische Armee jahrelang vernachlässigt, während Lukaschenka vor allem in die innere Sicherheit investierte. Der Armee mangelt es an Personal und Kampferfahrung. Das größte Problem ist jedoch, dass die Loyalität und Kampfmoral der Truppen in einem derart unpopulären Krieg wohl gering wären.

Drittens sind sich sowohl Lukaschenka als auch der russische Präsident Wladimir Putin der Gefahr für die Stabilität des Landes im Falle eines belarusischen Kriegseintritts bewusst. Mindestens 53 Prozent der belarusischen Bevölkerung lehnen eine Beteiligung am Krieg gegen die Ukraine ab. So kann nicht ausgeschlossen werden, dass es zu ähnlichen Sabotageakten wie den Guerillaktionen auf die belarusische Eisenbahn in vergangenen Monaten kommt. Belarus würden zudem weitere Sanktionen des Westens drohen, die die wirtschaftliche Situation im Land weiter verschlechtern würden. Es spricht deshalb einiges dafür, dass es bei den aktuellen belarusisch-russischen Bestrebungen vor allem darum geht, eine Drohkulisse aufzubauen, um ukrainische Kräfte im Norden zu binden.

Mögliche Optionen für Belarus

Lukaschenka steht unter immensem Druck Putins, seinen Verpflichtungen als engster politischer und militärischer Verbündeter Russlands nachzukommen. Sein Agieren ähnelt daher immer mehr einem Drahtseilakt , der umso schwieriger wird, je länger der Krieg andauert. Seine jüngsten Ankündigungen können als Versuch gedeutet werden, Putin zu beschwichtigen und auf Zeit zu spielen, um die belarusischen Truppen aus Einsätzen auf ukrainischem Territorium herauszuhalten. Sollte es zu weiteren „Provokationen“ wie z. B. den Explosionen auf der Brücke über die Straße von Kertsch am 8. Oktober oder möglichen ukrainischen Rückeroberungsversuchen der kürzlich von Russland annektierten Gebiete in der Süd- und Ostukraine kommen, wäre Belarus aufgrund des bestehendenVerteidigungsbündnisses streng genommen dazu verpflichtet, Russland militärischen Beistand zu leisten. Auf dem Schlachtfeld würden belarusische Truppen kaum einen Unterschied machen. Belarus in den Krieg zu verwickeln und damit zum Komplizen zu machen, könnte im Kalkül des Kremls aber die entscheidende Wende für Russlands eigene Kampfmoral bedeuten.

Egal für welchen Weg sich Lukaschenka entscheidet: Belarus als Staat hat bereits jetzt verloren. Weil das Regime Russland indirekt unterstützt, könnte es bereits jetzt als Kriegspartei angesehen werden und Präsident Lukashenka sich perspektivisch (sofern ihm seine Immunität als Staatsoberhaupt entzogen würde) vor einem UN-Sondertribunal verantworten. Sollte Lukaschenka sich dazu entscheiden, Russland bei einer Offensive gegen die Ukraine zu unterstützen, könnte das Belarus auf mehreren Ebenen destabilisieren und den weiteren Kriegsverlauf entscheidend beeinflussen. Aber selbst, wenn er es schafft, sein Land aus dem Krieg herauszuhalten, wird Belarus einen hohen Preis dafür zahlen müssen und durch Zugeständnisse an Russland allmählich seine militärische, wirtschaftliche und letztlich politische Souveränität einbüßen.


Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS.