ZOiS Spotlight 26/2022

Die kulturelle Annäherung der Ukraine an den Westen

Von Alessandro Achilli 06.07.2022
Statue des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko in Lwiw. IMAGO / ZUMA Wire

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Seit über vier Monaten herrscht in der Ukraine Krieg. Vor diesem Hintergrund mag es viele westliche Beobachter*innen verwundern, dass das Land sich so viel mit Büchern, dem einheimischen Buchmarkt und den kulturellen Beziehungen der Ukraine zu anderen Ländern beschäftigt. Dass einer strikteren Regulation des kulturellen Lebens in Kriegszeiten politische Priorität eingeräumt wird, steht jedoch im Einklang mit der ukrainischen Tradition, gerade Literatur als einen zentralen Bestandteil des öffentlichen Lebens zu betrachten. Ein im Juni 2022 erlassenes Gesetz, das den Import von Büchern aus Russland, Belarus und den besetzten Gebieten der Ukraine verbietet, ist ein wichtiger Schritt, um den ukrainischen Buchhandel zu stärken. Dessen Konsolidierung stellt eines der greifbarsten Ergebnisse des kulturellen Wandels dar, der durch die Revolution der Würde 2014 angestoßen wurde.

Ukrainische Kultur vor und nach 2014

Bis mindestens 2014 fand man in den Regalen ukrainischer Buchhandlungen traditionell eine hohe Anzahl an russischen Büchern. Das lag unter anderem am geringen Erfolg von Büchern aus einheimischer Produktion, die unter einem Ressourcen- und Investitionsmangel litt, der noch auf die 1990er-Jahre zurückging und die Entwicklung des ukrainischen Buchmarktes beeinträchtigte. Die Modernisierung des Buchmarktes besaß damals keine Priorität. Auch wissenschaftliche Veröffentlichungen waren auf russische Quellen und Übersetzungen angewiesen und enthielten oft eine große Anzahl von Zitaten und Verweisen auf russische oder russischsprachige Bücher und Artikel.

Diese Abhängigkeit von russischen Publikationen war Ausdruck einer kolonialen Beziehung zwischen den beiden Ländern und Kulturen, die bis heute anhält. Das könnte erklären, warum die Ukraine es inmitten des aktuellen Krieges als eine dringende Aufgabe betrachtet, die überwältigende Dominanz russischer Produkte im Kulturbereich zu überwinden.

Bereits nachdem die Ukraine sich 2014 entschlossen für eine Annäherung an den Westen entschieden hatte, begann die Bedeutung russischer Kultur für ukrainische Leser*innen zu sinken. Institutionelle Unterstützung und Gesetze mit dem Ziel, die russische Dominanz auf dem ukrainischen Buchmarkt zu verringern, haben zu einer rasant ansteigenden Anzahl von Buchveröffentlichungen in der Ukraine selbst geführt. Auch die Rolle der ukrainischen Sprache als öffentlichem Kommunikationsmittel wurde durch diesen Trend gestärkt, unabhängig davon, welche Sprache die Menschen im Privaten bevorzugen.

Das Gesetz vom Juni 2022 sieht eine stärkere institutionelle Unterstützung von Buchhandlungen vor – mitten im Krieg eine bemerkenswerte Entscheidung. Neben den ideologischen Beweggründen, russische Produkte vom ukrainischen Buchmarkt zu verbannen, verspricht die Förderung der Produktion und des Vertriebs ukrainischer Bücher offensichtlich auch wirtschaftliche Vorteile.

Die Entscheidung, Bücher aus Russland und Belarus – oder besser gesagt ihren Verkauf – in der Ukraine zu verbieten, passt somit zur allgemeinen Tendenz, die Idee einer ukrainischen Nationalkultur stärker zu betonen und zu verbreiten. Die gleichzeitig vorangetriebenen Vorhaben, russische Bücher auf den Lehrplänen der Schulen zumindest zeitweise durch westliche Literatur zu ersetzen und den öffentlichen Gebrauch der ukrainischen Sprache institutionell zu fördern, dienen demselben Ziel, die Ukraine zu verwestlichen.

Reaktionen und Missverständnisse

Dass die Ukraine aus einer eindeutig antikolonialen Haltung heraus den Buchmarkt zu regulieren versucht, könnte zu Nationalismusvorwürfen führen. Derartige Vorwürfe würden jedoch außer Acht lassen, dass die meisten westlichen Nationen über einen eigenen Markt für kulturelle Produkte verfügen, die im Inland produziert oder, wenn es sich um ausländische Werke handelt, für ein einheimisches Publikum aufbereitet wurden. Eine der Paradoxien der schwindenden Präsenz russischer Kultur in der heutigen Ukraine liegt darin, dass dieser Niedergang vor allem der russischen Aggression zu verdanken ist. Vor 2014 war die Grenze zwischen beiden Ländern extrem durchlässig und russische Kultur ein normaler Teil des Alltags in der Ukraine. Es mag zwar widersprüchlich klingen, aber womöglich erregte russische Kultur gerade aufgrund ihrer Alltäglichkeit in der Ukraine weniger Aufsehen als ukrainische. Nach der Annexion der Krim und dem Ausbruch des Kriegs in der Donbasregion im Osten des Landes sind die ukrainischen Behörden und viele Vertreter*innen der Kulturbranche verständlicherweise auf Distanz zu ihrem Nachbarland gegangen.

Das Gesetz gegen Bücher aus Belarus hat interessanterweise in den sozialen Medien für Diskussionen zwischen ukrainischen und belarusischen Intellektuellen gesorgt, da letztere befürchten, dass ein Verbot von in Belarus veröffentlichten Büchern dem Dialog zwischen den beiden Ländern schaden wird. Nach den Protesten in Belarus 2020 florierte die Zusammenarbeit zwischen ukrainischen und oppositionellen belarusischen Schriftsteller*innen. Seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar haben die Beziehungen zwischen der Ukraine und Belarus sich jedoch allgemein verschlechtert. Es ist aber wichtig zu beachten, dass das Gesetz vom Juni 2022 den Import von bis zu zehn russischen oder belarusischen Büchern pro Person für nicht kommerzielle Zwecke erlaubt.

Was in der Ukraine geschieht, ist im Großen und Ganzen ein Prozess kultureller Normalisierung, auch wenn er aufgrund der Geschwindigkeit und Ungewissheit des gegenwärtigen Krieges dramatischer erscheinen mag als er ist, und bei so manchen Beobachter*innen für Verwunderung sorgt.


Alessandro Achilli ist Senior Assistant Professor für Slawistik an der Universität von Cagliari, Italien.