ZOiS Spotlight 11/2022

Die Ideologie hinter Russlands Krieg

Von Katharina Bluhm 23.03.2022
Jubiläumsveranstaltung zur Annexion der Krim am 18. März 2022 in Simferopol, Krim. IMAGO / SNA

Der russische Präsident Wladimir Putin galt lange als Realpolitiker, der zwar gnadenlos, aber interessenorientiert agiert. Er selbst inszenierte sich gern als Pragmatiker und seit 2012 als „Pragmatiker mit einer konservativen Neigung“, dem Regimestabilität lange wichtiger als riskante Reformen war. Ideologie erschien lediglich als Instrument für Propaganda, als „falsches Bewusstsein“, um das Volk von den seit der Krim-Annexion ins Stocken geratenen Wohlstandsverbesserungen abzulenken. Der „Sozialvertrag“ mit Putin wurde erfolgreich durch Patriotismus ersetzt. Doch weder Putins listiger Pragmatismus noch sein rein instrumenteller Umgang mit Ideologie wollen zu der Fehlkalkulation seines „Blitzkrieges“ passen. Auch wenn es gelingen sollte, die Ukraine zeitweilig zu unterwerfen, hat sich diese Fehlkalkulation, was die eigenen militärischen Fähigkeiten, die Reaktion des Westens und vor allem den Widerstand der Ukrainer*innen angeht, als desaströs erwiesen. Ist er also ein Opfer seiner eigenen Geheimdienste, die ihm nur sagten, was er hören wollte, und seiner eigenen Propagandamaschinerie?

Im Westen versucht man, Putins Fehlkalkulation mit seiner einsamen Machtfülle, narzisstischer Kränkung oder eben doch ideologisch zu erklären. Auf einmal ist von Ideologie die Rede, vom Eurasianismus, dem „Dritten Rom“ und Putins Großrussentum. Aber unsere öffentlichen Diskurse unterliegen schon wieder Kurzschlüssen. Erstens rezipieren wir sie nur als rückwärtsgewandtes Denken. Zweitens werden wieder einzelne Ideologen ausfindig gemacht, die als Einflüsterer das Ohr des Autokraten und „Feldherrn“ haben. Dabei kommen neuerdings Putins enger Vertrauter und Banker Juri Kowaltschuk, aber vor allem Alexander Dugin ins Spiel – der im Westen bekannteste Ideologe der russischen neuen Rechten. Doch der revanchistische Eurasier und „konservative Revolutionär“, so einflussreich er Anfang der 2000er Jahre war, war nie der einzige; er war immer umstritten und verlor über die Jahre an Bedeutung.

Der Weg zur Staatsideologie

Um die Rolle von Ideologie im neoimperialen und autoritären Russland zu verstehen, muss man Ideologieproduktion als einen komplexen eigendynamischen Prozess betrachten, der sich permanent auf die russische Machtelite und auf „den Westen“ bezieht. Der Blick auf diesen Prozess lenkt die Aufmerksamkeit auf die viele Jahre andauernde Kontroverse darum, was der „Putinismus“ ideologisch bedeuten soll. Die heutige Staatsideologie, die in der veränderten Verfassung von 2020, den Sicherheitsdoktrinen von 2015 und 2021 und in vielen anderen offiziellen Dokumenten fixiert ist, bildet den Abschluss dieses komplexen Prozesses; der Krieg gegen die Ukraine dessen Endpunkt.

Startpunkt war eine revisionistische Gegenbewegung, die sich Ende der 1990er Jahre gegen die Auflösung der Sowjetunion, aber auch gegen die autoritär durchgesetzten, neoliberalen Wirtschaftsreformen der Jelzin-Zeit, gegen die neue Finanz- und Ressourcen-Oligarchie, den russischen Crony- und Turbo-Kapitalismus, gegen die ausufernde Korruption, die amoralische Konsumgesellschaft und gegen die Integration Russlands in die globalisierte Weltwirtschaft als Rohstofflieferant und Kapitalexporteur gebildet hatte. Beteiligt daran sind sowohl „konzeptive Ideologen“ (überwiegend Männer), als auch Publizisten, Schriftsteller, Celebrities aus dem Kunstbetrieb, Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche, orthodoxe christliche Fundamentalisten und Aktivist*innen. „Restauration der Zukunft“, „Gegenreformation“ oder „Russische Doktrin. Eine Waffe des Bewusstseins“ waren Titel auf den konservativen Bewegungsmanifesten. Ihr gemeinsamer Nenner besteht nicht nur in dem Bestreben, Teile des „historischen Russlands“ wiederherzustellen, sondern in einem breiten Anti-Neoliberalismus und der Ablehnung des Westens als einer politisch, ökonomisch und kulturell dominanten transatlantischen Struktur. Nachholende Entwicklung sei unter den Bedingungen des Osteuropa in den 1990er Jahren verordneten Washingtoner Consensus nicht möglich – so der allgemeine Konsens dieser konservativen Bewegung, von der Putin eher zögerlich Ideen übernahm. Der revanchistische Eurasier Dugin gehört zweifellos zu den prominenten Figuren dieser Bewegung, aber er war zu keinem Zeitpunkt ihr intellektuelle Anführer.

Krieg als panische Geschichtskorrektur

Das jetzige Losschlagen des militärisch-industriellen Komplexes Russlands unter Putin gegen die Ukraine und unter Stilllegung anderer Elitefraktionen, die ganz offenbar nicht in die Kriegsvorbereitung einbezogen waren, lässt sich als Wahrnehmung einer scheinbar günstigen Gelegenheit begreifen. Aber das Eingehen eines solchen Risikos erscheint vor allem als Ausdruck von Panik – einer Panik, womöglich die letzte Chance zur Geschichtskorrektur zu verpassen. Dabei geht es nicht um die Wiederherstellung eines vorherigen Zustandes, sondern um die Zukunft.

In den letzten Jahren ist mit dem Aufstieg Chinas die Furcht weiter gestiegen, von den neuen Großmächten abgehängt zu werden, während sich der absteigende „Westen“ immer noch in den postsowjetischen Raum ausdehnt. Beides bedroht die Leitidee, dass Russland, um eine souveräne Macht zu sein – und das heißt aus russischer Perspektive: eine Großmacht zu sein –, einen eigenen geoökonomischen Raum braucht. Immanuel Wallerstein, der mit „After Liberalism“ neben Samuel Huntington mit „Clash of Civilizations“ zu den am meisten zitierten nicht-russischen Autoren zählt, teilt die moderne kapitalistische Weltwirtschaft in Weltzentren, Semiperipherien und Peripherien ein. Was die russische konservative Gegenbewegung vom westlichen Liberalismus negiert sieht, sind Russlands Chancen, in der sich verändernden Weltordnung ein solches politisches, ökonomisches und kulturelles Zentrum zu werden und sich auf diese Weise als Imperium zu erhalten. Diese Negation begreift sie als Existenzbedrohung Russlands und dessen inneren Zusammenhalts, was durchaus auf jene Resonanz in der Bevölkerung trifft, ohne die Propaganda nicht greift. Russland erhält zudem eine neue historische, postkoloniale, ja metaphysische Mission der „De-Westernisierung“ und „De-Europäisierung der Welt“. Putin will, wie er unlängst kundtat, „einen Schlussstrich unter die globale Dominanz der westlichen Länder in Politik und Wirtschaft“ ziehen.

Der großrussische Nationalismus, unter dessen Banner Russland in den Krieg gegen sein „Brudervolk“ zog, hat nichts mit interessengeleiteter Politik zu tun. Er nimmt keine Rücksicht auf die Wirtschaftsinteressen der wichtigsten exportorientierten Branchen Russlands, noch fürchtet er sich vor dem Brain-Drain durch den Weggang der kosmopolitischen „kreativen Klasse“. Er führt Russland in eine verstärkte Abhängigkeit von China. Vor allem aber konterkariert die Invasion die eurasische Idee, die in den 1990er Jahren als Antwort auf die Auflösung der Sowjetunion aktiviert wurde. Dugins revanchistischer Eurasianismus war nur eine Variante davon. Denn ein ernstgemeinter Eurasianismus müsste inklusiv sein und sich für seine Semi-Peripherie und Peripherie attraktiv machen. Gewalt ist dafür ungeeignet, auch wenn die russische Regierung die Mitglieder der Eurasischen Union demonstrativ zu belohnen sucht, indem sie diese vom im März verhängten Exportstopp von russischem Getreide ausnimmt. Ob der Vorschlag der Wirtschaftskommission der Eurasischen Union, einen eurasischen Rubel als Beginn eines vom Dollar unabhängigen Finanzsystems einzuführen, ein Erfolg wird, bleibt ebenfalls abzuwarten.


Katharina Bluhm ist Professorin für Soziologie und leitet das Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin.