ZOiS Spotlight 28/2022

Die Auswirkungen des Krieges auf die Wertevorstellungen in der Ukraine

Von Iryna Kaplan 20.07.2022
Aufgrund des Krieges fand der Warschau und KyivPride dieses Jahr gemeinsam in der polnischen Hauptstadt statt. imago / ZUMA Wire

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Durch den Krieg ist die Ukraine in den Fokus der Weltöffentlichkeit geraten. Weltweit schauen die Menschen mit Entsetzen auf die Ereignisse im Land, während ihnen die Namen der Stadtviertel Charkiws und Vororte Kyjiws und die Outfits des ukrainischen Präsidenten seltsam vertraut geworden sind. Je länger der Krieg sich hinzieht, desto schwieriger wird es jedoch, die Aufmerksamkeit Außenstehender aufrechtzuerhalten. Und auch den Menschen in der Ukraine gelingt es, zu einem gewissen Alltag zurückzukehren, der zwar nie mehr derselbe sein wird wie zuvor, aber trotzdem irgendwie weitergehen muss.

Für einige Teile der ukrainischen Gesellschaft war der Alltag schon zu friedlicheren Zeiten hart genug. Als die ukrainische NGO „Workshop für akademische Religionswissenschaft“ (Workshop for the Academic Study of Religion) 2021 ihr Projekt „Das Unvereinbare vereinen: Die Probleme gläubiger Feminst*innen und LGBTQ+ in der Ukraine sichtbar machen “ startete, herrschten erbitterte Debatten über die Gleichstellung der Geschlechter, Frauenrechte und die Freiheitsrechte von LGBTQ+ , die zu zahlreichen kontroversen Stellungnahmen von Politiker*innen, Meinungsführer*innen und vor allem führenden Glaubensvertreter*innen führten.

Besonders die christlichen Religionsgemeinschaften blockierten die politischen Initiativen gegen häusliche Gewalt, Frauenrechte und zum Schutz von LGBTQ+-Rechten mit dem Verweis auf traditionelle Werte. Neben der weitreichenden Diskriminierung fanden Angehörige der LGBTQ+-Community und Feminist*innen deshalb auch in ihren religiösen Gemeinden keine spirituelle Unterstützung.

Westliche Werte als Feindbild

Während des ersten Monats dieses brutalen Krieges, als russische Truppen in Butscha, Hostomel und anderen ukrainischen Städten Massaker an Zivilist*innen verübten, hielt der Moskauer Patriarch Kirill eine Predigt, in der er vor der Gefahr westlicher Werte für Russland warnte, das seiner Ansicht nach auch die Ukraine miteinschließt. Er stellte LGBTQ+-Rechte und Pride-Paraden als einen „Loyalitätstest“ des Westens dar, der den Gläubigen des Donbass im Osten der Ukraine mit Gewalt aufgezwungen worden sei. Seine am 6. März, dem orthodoxen Sonntag der Vergebung, gehaltene Predigt brachte den kirchlichen Feiertag und den gegenwärtigen Krieg mit Fragen der sexuellen Orientierung und des Geschlechts in Verbindung und machte damit die bizarre Obsession Russlands mit dem Thema LGBTQ+ deutlich. Zweifelsohne handelt es sich bei der Intervention des Patriarchen um einen Versuch, die Aufmerksamkeit und Unterstützung konservativer Bewegungen in Europa zu gewinnen.

Der Krieg zwingt Personen des öffentlichen Lebens in der Ukraine und Russland dazu, sich für eine Seite zu entscheiden und sich als Ausdruck der eigenen Zugehörigkeit einem der zwei konkurrierenden Wertesysteme, die den Diskurs in Europa aktuell prägen, anzuschließen. In Russland hat man sich für die konservativere Alternative entschieden, in der Ukraine für die liberalere. Beide Seiten haben dafür die Anerkennung ihrer Verbündeten erhalten.

Patriarch Kirills Predigt muss auch als ein Bestandteil der Propaganda Moskaus betrachtet werden, die behauptet, dass der Ukraine gefährliche europäische Werte aufgezwungen wurden. Ironischerweise könnte sich seine Darstellung von LGBTQ+-Rechten als eine Bedrohung sogar positiv für ukrainische LGBTQ+-Aktivist*innen und Feminist*innen auswirken. Seit Beginn des Krieges am 24. Februar ist alles Russische, insbesondere die russischen Werte, zu einem Synonym für Zerstörung und Krieg geworden. Wenn es russisch ist, homophob zu sein, dann ist es ukrainisch, für die Rechte von LGBTQ+ zu sein. Im Anschluss an seine Darstellung russischer Werte schilderte Kirill in seiner Rede auch, was er als aufkeimenden Freiheitskampf der Ukrainer*innen gegen ihre Regierung und den Westen betrachtet.

Die Annährung der Ukraine an Europa

Seit Ausbruch des Krieges haben die ukrainischen Behörden damit begonnen, aktiv und offen ihre Unterstützung für LGBTQ+-Personen zum Ausdruck zu bringen, indem sie auf ihren offiziellen Internetseiten Fotos von homosexuellen, bisexuellen und Transsoldat*innen veröffentlichten. Außerdem würdigen die Behörden die Leistungen, die Frauen in der Armee erbringen, und verwenden in offiziellen Ansprachen geschlechtsspezifische Berufsbezeichnungen, um die Rolle von Frauen in der Gesellschaft im Allgemeinen und besonders im gegenwärtigen Krieg hervorzuheben. Anstatt die Belange von Frauen und LGBTQ+ zu ignorieren, hat der herrschende Diskurs in der Ukraine sie sich zu eigen macht.

Teilweise ist dieser Wandel den intensivierten Bemühungen der Ukraine um einen EU-Beitritt zu verdanken, die schon vor Februar 2022 begannen und das Land zu mehr Offenheit gegenüber Minderheiten und vulnerablen Gruppen zwangen. Zu einem Symbol dieser minderheitenfreundlichen Politik ist die jährlich stattfindende KyivPride geworden, die dieses Jahr mit der WarsawPride zusammengelegt und in der polnischen Hauptstadt abgehalten wurde.

Zugleich führte der proeuropäische Kurs der Ukraine jedoch zu Auseinandersetzungen zwischen Aktivist*innen und dem Allukrainischen Rat der Kirchen und Religionsgemeinschaften – einer interreligiösen Plattform, die über 90 Prozent aller Religionsgemeinschaften in der Ukraine repräsentiert – über das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, bekannt als Istanbul-Konvention. Sie sorgte beim Kirchenrat und seinen Verbündeten im ukrainischen Parlament für große Empörung. Die Ukraine hatte die Konvention 2011 unterschrieben, ratifizierte sie dann jedoch aufgrund von Protesten und einer vom Kirchenrat initiierten Kampagne nicht. Die Statements des Kirchenrats zur Istanbul-Konvention enthielten ähnliche Botschaften wie die Rede des Patriarchen Kirill am diesjährigen Sonntag der Vergebung.

Angesichts der Versuche des Patriarchen, homophobe Positionen zur Legitimation des Krieges zu nutzen, waren derartige Debatten über die Istanbul-Konvention jedoch nicht mehr möglich. Als die Konvention am 20. Juni endlich ratifiziert wurde, konnten nicht nur aufgrund des herrschenden Kriegsrechts, sondern auch wegen des stillschweigenden Einverständnisses, sich mit Kritik gegenüber den ukrainischen Behörden zurückzuhalten, um die neugewonnene Einheit des Landes im Angesicht der russischen Aggression nicht zu gefährden, keine neuen Massenproteste abgehalten werden. Massenhafte Unmutsäußerungen über die Ratifizierung der Konvention blieben aus, da derartige Äußerungen in der momentanen Situation bedeuten würden, sich ideell auf die Seite Russlands zu stellen. Selbst die konservativsten Christ*innen können es sich nicht leisten, in einem solchen Licht zu erscheinen. Auf eine aktuelle Initiative zur Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen werden in den kommenden Monaten ähnliche Reaktionen zu erwarten sein.

Krieg als Katalysator von Wertefragen

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die Polarisierung zwischen den beiden Ländern weiter verschärft. Vor dem 24. Februar konnte man sich auf einen gewissen Prozentsatz von Ukrainer*innen mit positiven Einstellungen gegenüber den von Russland repräsentierten und unter anderem auch von den Religionsgemeinschaften in der Ukraine vertretenen Werten verlassen. Seit dem 24. Februar verbinden die Menschen in der Ukraine Russland nur noch mit Zerstörung, Tod, Hunger und all den anderen Schrecken des Krieges.

Am Fall von LGBTQ+ wird deutlich, dass die Ukrainer*innen ihre Einstellungen zu vielen Dingen, etwa dem russischen Kolonialismus und den Freiheitsrechten vulnerabler Gruppen, dringend überdenken müssen. Noch ist es zu früh, um Schlüsse aus der Ratifizierung der Istanbul-Konvention ziehen zu können. Sie stellt jedoch einen ersten, wichtigen Schritt auf dem Weg der Ukraine zu einer inklusiveren Gesellschaft dar. Der proeuropäische Kurs der Ukraine ist damit auch eine Folge der religiösen Strategie Russlands und macht deutlich, dass selbst die mächtige russische Propaganda ab und zu Fehler macht.


Iryna Kaplan verfügt über einen Master in Theologie. Sie ist Teil der NGO „Workshop für akademische Religionswissenschaft” in Kyjiw und leitet das Projekt „Das Unvereinbare vereinen: Die Probleme gläubiger Feminst*innen und LGBTQ+ in der Ukraine sichtbar machen (2021-2022)“. Aktuell ist sie Gastwissenschaftlerin am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum.