ZOiS Spotlight 19/2022

Der Krieg spaltet: (un)klare Aussagen in der russischen und ukrainischen Rapszene

Von Aleksej Tikhonov 18.05.2022
„Schweigen ist ein Synonym für Lügen“ steht im Hintergrund auf einem Konzert des ukrainischen Rappers Monatik in Offenbach. Veronika Monakova, www.jetsetter.ua

Er weiß nicht einmal, wen er da bekämpft / Ich trotze und zerschlage seine Panzer / Ich schlage ihm die Zähne aus und er beißt nicht mehr / Er merkt nicht einmal, seine Panzer sind nur Schrott

MONATIK - ART Oborona (KUNST Verteidigung)

Mit einem neuen Punkterekord an Publikumsstimmen hat die ukrainische Band Kalush Orchestra den diesjährigen Eurovision Song Contest (ESC) gewonnen. Das überwältigende Votum aus allen beteiligten Ländern demonstriert eindrucksvoll, dass selbst Musik von den derzeitigen politischen Entwicklungen beeinflusst wird. So nahm die Electrofolk-Band aus dem gleichnamigen westukrainischen Ort Kalusch auch die Gelegenheit, die Zuschauenden des ansonsten unpolitischen Wettbewerbs auf die aktuelle Situation in der Ukraine aufmerksam zu machen. Ihr Lied mit starker Hip-Hop-Komponente trugen sie komplett auf Ukrainisch vor.

Rap beim ESC ist keine Neuheit für die Ukraine. 2017 eröffnete der ukrainische Rapper Monatik den Eurovision Song Contest in Kyjiw. Auch er bezieht angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine eindeutig Stellung. Bis vor wenigen Monaten war die dominante Sprache seiner Lieder Russisch. Doch Mitte April 2022 vollzog er mit dem Lied  ART Oborona einen symbolischen Wechsel ins Ukrainische. Die Beschreibung des dazugehörigen Videos, das eine Collage aus Sonnenblumen, Ansichten ukrainischer Städte und einem bewaffneten (vermutlich ukrainischen) Soldaten zeigt, fängt mit den unmissverständlichen Worten auf Russisch an: Früher waren meine Helden fiktive Charaktere aus Marvel, DC, Dark Horse Comics usw. Alles wurde vor langer Zeit auf den Kopf gestellt. Die Helden wurden real. Darauf folgt eine Danksagung an die ukrainische Armee und ein Link zu einer Spendenplattform für die Streitkräfte.

Von einem Rap-Gebet bis zum Ausdruck von Hass  

Klare Aussagen und Taten kommen ebenso vom ukrainischen Shooting Star Alyona Alyona (Alyona Avranenko), unter deren Kyjiwer Label auch die ESC-Gewinner Kalush unter Vertrag stehen. Gemeinsam mit der Pop-Sängerin Jerry Heil (Yana Shemaeva) veröffentlichte sie am orthodoxen Osterfest das Lied Рідні мої (Meine Lieben). Die Lyrics sind ein Ruf nach Frieden: Meine Lieben, Meine Lieben, // Der Hund bellt nicht mehr, // Auch die Katze schnurrt nicht auf der Veranda, // Das Weinen der Kinder soll nicht mehr erklingen. Auf YouTube wurde das Lied bereits über zwei Millionen Mal aufgerufen. Ihren Account benutzt die Rapperin auch als politische Bühne und schließt sich damit zahlreichen weiteren Musiker*innen aus der Ukraine an, die ihr Profilbild mit der ukrainischen Flagge hinterlegt und als Vorschaubild ihrer Videos folgendes Statement eingestellt haben: STOP IT! While you are watching this video, ukrainian people are dying from russian attack [sic!]. Alyona Alyona ist auch als Freiwillige aktiv – sie sortiert und verteilt humanitäre Hilfsgüter. Die meisten Konzerte hat sie abgesagt.  

Der Ausbruch des russischen Krieges gegen die Ukraine war nicht nur ein Katalysator für neue Lieder, sondern auch für neue Musikprojekte. Der Odesaer Rapper/Nu Metaler хейтспіч (Hatespeech) bringt erst seit Anfang April Tracks heraus, doch sein Lied руzzкий мир (die ruzzische Welt) hat bereits über 30.000 Streams auf Spotify und rund 50.000 Views auf YouTube. Als Kontrast zu Alyona Alyona wendet er sich nicht in erster Linie an Ukrainer*innen, sondern an Russ*innen, und wählt dabei harsche Worte: Wie feige Ratten ohne konkrete Idee, // Habt ihr Bomben abgeworfen, während alle schliefen, // Es weinten Mütter und Kinder, // Wer es konnte – lief weg, // Das ist verdammt männlich, // In einem Bunker zu sitzen und zu lügen, // Ich bin selbst zur Hälfte Russe, // Doch ich hasse sie alle. So explizit wie sein Künstlername und der Titel des Liedes, der auf die Kriegssymbolik Russlands – den Buchstaben Z – anspielt, geht auch das Lied weiter: Ihr wusstet nicht, was passieren wird? // Verdammt, ich erzähle es euch, // Betet weiter, // Habt Angst vor dem Führer, // Gewöhnt euch ans Überleben, // Füttert den Drachen, // Mit Blut verschmiert sind eure Hände, // Doch in der Ecke steht eine Ikone. Hierbei spricht der Künstler nicht nur von den Kriegshandlungen, sondern möchte auch die Doppelmoral der Gesellschaft und der Regierung in Russland aufzeigen, die zwischen dem Angriffskrieg und dem orthodoxen Glauben keinen Widerspruch sehen. Auch ein mögliches Informationsdefizit durch die russische Propaganda spricht der Rapper mit seinem Text an, denn er fragt die Hörer*innen, ob sie tatsächlich nichts von dem Geschehen gewusst haben.

Big in Russia: ukrainische Rapper im Nachbarland

Wesentlich gespaltener in ihren Reaktionen auf den Krieg sind ukrainischstämmige Rapper in Russland.  Die drei populärsten unter ihnen sind T-Fest, Kyivstoner und Geegun. Kyrylo Nezborezkyj aka T-Fest, dessen von seinem Moskauer Major Label Gazgolder produzierte Musikvideos heute auf YouTube bis zu 115 Millionen Aufrufe zählen, ist einer der meistgesehenen Rapper*innen in Russland. Nichtsdestotrotz hat der Musiker nach dem 24. Februar 2022 Russland verlassen. Seitdem spielt er zusammen mit anderen russischen und ukrainischen Musiker*innen Wohltätigkeitskonzerte in diversen Ländern der EU. Die gesammelten Mittel werden an Ukrainer*innen in Not gespendet. Gazgolder hatte zuvor das Verhältnis mit dem Musiker beendet.

Ebenfalls ein Gazgolder und ein gebürtiger Ukrainer ist der Rapper und Entertainer Kyivstoner (Albert Vasil‘ev). Er postete zunächst vor allem auf seinem Instagram-Kanal Stories gegen den Krieg in seinem Heimatland. Nach einigen Wochen blieb davon lediglich das Titelbild – eine Ukraine-Flagge – übrig und politische Statements werden nicht mehr gepostet. Den Bezug zu seiner Heimat betont Kyivstoner nicht nur in seinem Künstlernamen, in dem er den ukrainischen und nicht russischen Namen von Kyjiw wählte, sondern auch in seinem öffentlichen Auftreten. Im Vergleich zu T-Fest und Geegun rappt und spricht er nicht komplett auf Russisch, sondern wechselt teilweise zu Surschyk, einer Mischsprache zwischen Russisch und Ukrainisch, oder spricht in russischer mündlicher Rede einige Laute prägnant Ukrainisch aus. Trotz seiner anscheinend ukrainisch-patriotischen Einstellung entschied er sich vorerst für eine unklare Positionierung bzw. für die Unterlassung klarer politischer Äußerungen.

Auffällig still blieb der in Odesa geborene Denys Ustymenko aka Geegun. 2007 unterzeichnete er beim Moskauer Label Black Star Inc. und verlegte damit seinen Lebensmittelpunkt in die russische Hauptstadt. Ein ehemaliger Geschäftsführer und das Gesicht des Labels war bis zum Sommer 2020 Timur Junusov aka Timati – ein tatarisch-russischer Rapper mit politischer Nähe zum Kreml und zur russischen Kulturwelt. Am 25. März 2022 – einen Monat nach dem Kriegsausbruch in seiner Heimat – veröffentlichte Geegun auf seinem YouTube-Channel das Lied Prime Time – auf Russisch und ohne politische Bezüge. In der Kommentarspalte sind diverse Nachrichten zu sehen – einige Fans hoffen, dass Geegun doch noch zur Heimat zurückfindet; einige schwören darauf, dass sie sein Schweigen nicht vergessen werden; wiederum andere bezeugen ihre positiven Emotionen in Bezug auf das neue Lied. Über die Gründe für sein Schweigen kann indes nur spekuliert werden.

Musikalische Isolation

Der Krieg zieht klare Linien durch den ostslawischen Rap. Entweder ist man für die Ukraine oder hält an Russland fest. Entweder schweigt man oder trifft allgemeine Aussagen über den Frieden in der ganzen Welt. Eines scheint jedoch klar: Musik sowohl für ein ukrainisches als auch ein russisches Publikum zu machen, ist nicht mehr möglich. Hinzu kommt, dass die russische Musikindustrie immer weiter isoliert wird, denn westliche soziale Netzwerke und Streamingdienste verlassen entweder seit Kriegsbeginn zunehmend selbst das Land oder sie werden verboten. Auch die ukrainischen Stimmen – egal, in welcher Sprache – werden dann in Russland nicht mehr gehört, ganz gleich, ob es sich dabei um ein musikalisches Gebet oder eine Hasspredigt handelt.   


Alle Liedzitate wurden aus dem Russischen oder Ukrainischen vom Autor übertragen.

Aleksej Tikhonov ist PostDoc im linguistischen Kooperationsprojekt „The history of pronominal subjects in the languages of Northern Europe“ der Humboldt-Universität zu Berlin und der University of Oxford und habilitiert zum Einfluss slawischer Sprachen im Deutschrap.