ZOiS Spotlight 21/2023

Brüssels Haltung gegenüber Ungarn und Polen angesichts des Kriegs gegen die Ukraine

Von Lunting Wu Kamil Matusiewicz 15.11.2023

Polen und Ungarn sind berüchtigt für ihren Widerstand gegen die rechtsstaatliche Agenda der EU. Ist Brüssel wegen Russlands Krieg gegen die Ukraine und der nötigen inneren Solidarität zu milde mit ihnen umgegangen? Und hat Polen als lautstarker Unterstützer der Ukraine eine „Sonderbehandlung“ erhalten?

Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban beim Gipfeltreffen der Visegrád-Gruppe 2021 in Polen. IMAGO / NurPhoto

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Polen und Ungarn sind seit langem als Unruhestifter*innen innerhalb der Europäischen Union bekannt. Haben die sicherheitspolitischen Erfordernisse einer Unterstützung der Ukraine und die Notwendigkeit eines Schulterschlusses innerhalb der Union Brüssels Entschlossenheit geschadet, Polen und Ungarn angesichts ihrer demokratischen Rückschritte und Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in die Schranken zu weisen? Hat die EU die beiden Nationen angesichts Warschaus vehementer Verteidigung der Ukraine und Budapests anhaltend enger Beziehungen zu Moskau unterschiedlich behandelt? Noch wichtiger aber: Kann die EU in der Praxis zwischen der inneren Solidarität und den Werten und Normen, für die sie steht, unterscheiden?

Differenzen zwischen ehemaligen Verbündeten

Warschau und Budapest haben in Reaktion auf den Krieg des Kremls gegen die Ukraine außenpolitisch diametral entgegengesetzte Haltungen eingenommen. Angesichts des Krieges direkt vor ihrer Haustür fallen die Präferenzen und Verhaltensweisen der einstigen „Komplizen“ deutlich auseinander. Während Polen zum Beispiel ein starker Verfechter von Sanktionen gegen Moskau und eines NATO-Beitritts der Ukraine ist, hat Ungarn jede einzelne Sanktion der EU gegenüber Russland (etwa gegen Ölimporte) verzögert oder blockiert. Auch Verhandlungen auf ministerieller Ebene zwischen der NATO und der Ukraine wurden seit 2018 behindert, laut eigener Begründung aus Besorgnis um die Rechte der ungarischen Minderheit in der Ukraine. Aus ähnlichen Gründen dürfte Budapest zu einem Hindernis auf dem Weg Kyjiws in die EU werden. Ungarn behinderte auch die Bemühungen Finnlands und Schwedens, der Militärallianz beizutreten. Während Warschau keine Gelegenheit verpasst, den Kreml zu verurteilen, versucht Budapest sich an einem Drahtseilakt.

Auch was ihre Beziehungen zu China und den USA angeht, unterscheiden sich die beiden Länder. Während die polnische Regierung über Chinas stillschweigende Unterstützung Russlands beunruhigt ist, setzt Ungarns im Gegensatz zur aktuellen De-Risking-Strategie der EU seinen Kurs fort, „Business-as-usual“ zu betreiben. Zudem steht Budapest der aktuellen US-Regierung feindselig gegenüber, während Warschau ihr große Achtung zollt.

Polens Premierminister Mateusz Morawiecki merkte im April an, dass sich die Beziehung seines Landes zu Ungarn „aufgrund der Haltung Ungarns zur Ukraine und Russland sehr verändert hat. Das ist eine Tatsache. Wir verfügten früher auf der Ebene der Visegrad-Gruppe über eine sehr enge Zusammenarbeit, das ist mittlerweile nicht mehr der Fall“. Trotzdem wäre es übertrieben zu behaupten, dass die beiden Länder nichts mehr gemeinsam hätten. Im Vergleich zur Flüchtlingskrise 2015 haben sie gegenüber Flüchtlingen aus der Ukraine eine offenere Haltung eingenommen, was einige Beobachter*innen als ein Beispiel flexibler Solidarität innerhalb der EU betrachten. Darüber hinaus gehören sie zu den wenigen EU-Mitgliedsstaaten, die Getreideeinfuhren aus der Ukraine verboten haben. Von größerer Bedeutung ist jedoch die Tatsache, dass sie im Europarat angesichts der Verfahren nach Artikel 7 über die Suspendierung ihrer Mitgliedschaft aufeinander angewiesen sind. Mit einer neuen Regierung in Warschau, die den Beziehungen Polens zu Brüssel womöglich neues Leben einhauchen wird, dürfte sich dies jedoch ändern.

In Kriegszeiten zuhause für Ordnung sorgen? 

Im Großen und Ganzen hat die EU es bisher nicht zugelassen, dass die erforderliche Solidarität ihre Disziplinarverfahren gegen die zwei Mitgliedsstaaten verwässert. Die Institutionen der EU haben sich auf die Verordnung über die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit und die „horizontalen Prinzipien“ der Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen (Common Provisions Regulation, CPR) berufen, um beiden Ländern aufgrund ihrer Verstöße gegen europäische Normen und Grundsätze finanzielle Mittel in Höhe von mehreren zehn Milliarden Euro vorzuenthalten. Aufgrund von Korruptionsvorwürfen brachte die Kommission etwa zwei Monate nach Kriegsbeginn die Konditionalitätsverordnung gegen Budapest zum Einsatz und fror 65 Prozent der vorgesehenen Gelder aus dem Kohäsionsfond ein. Fünf Monate später bezeichnete das Europäische Parlament Ungarn als eine Wahlautokratie. Im Dezember 2022 verklagte die Kommission Polen vor dem Europäischen Gerichtshof wegen Eingriffen der PiS-Partei in die richterliche Unabhängigkeit. Darüber hinaus hat die Kommission sich nicht nur die wirtschaftliche Konditionalität berufen, um finanzielle Mittel für die beiden Länder aus der Aufbau- und Resilienzfazilität zu blockieren, sondern auch die „horizontalen Prinzipien“ geltend gemacht und auf Grundlage der Vereinbarung mit gemeinsamen Bestimmungen alle acht Finanzpakete so lange eingefroren, bis die richterliche Unabhängigkeit in den jeweiligen Ländern wiederhergestellt ist.

Auch wenn sie sich mit einer äußeren Bedrohung konfrontiert sieht, scheint die EU also nicht davor zurückzuschrecken, ihre Mitgliedsstaaten in die Schranken zu weisen. Politische Kommentator*innen stellen fest, dass Brüssel über rein rechtliche Verfahren hinausgeht und finanzielle Instrumente nutzt, um demokratische Rückschritte in den beiden Ländern rückgängig zu machen. Das hat bis zu einem gewissen Grad funktioniert. Damit Teile des Kohäsionsfonds wieder freigegeben werden, erließ das ungarische Parlament 2022 eine Reihe von Antikorruptionsgesetzen und stimmte Anfang dieses Jahres einem Justizpaket zu, das Bestimmungen zur Stärkung des Landesrichterrat enthält. Das polnische Parlament hat zwei Gesetzesentwürfe verabschiedet, um die Vorgaben der EU zu erfüllen und die Freigabe von Teilen der Aufbau- und Resilienzfazilität zu erreichen. In beiden Fällen wurden die Maßnahmen von EU-Vertreter*innen und NGOs begrüßt, die jedoch gleichzeitig zu bedenken gaben, dass immer noch erhebliche Verbesserungen erforderlich seien und die vorgelegten Gesetze erst praktisch umgesetzt werden sollten, bevor weitere finanzielle Mittel freigegeben werden.

Isolierte Beispiele der Nachsicht und „Sonderbehandlung“

Dennoch hat die EU möglicherweise zugelassen, dass die gegenseitige Solidarität einen Moment lang die Rolle der EU, in ihrem Haus für Ordnung zu sorgen, überschatten konnte. Als sie die Entscheidung verteidigte, Polens Aufbau- und Resilienzplan gegen den Widerstand von fünf Kommissionsmitgliedern zu genehmigen, betonte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Notwendigkeit der „Solidarität mit Mitgliedsstaaten, die von den Erschütterungen des Krieges am stärksten betroffen sind, insbesondere jenen, die wie Polen vom Kreml mit dem Mittel der Energie erpresst werden“. Der Plan wurde anschließend vom Rat der Finanzminister*innen abgesegnet, was als ein Zeichen des guten Willens gegenüber Warschau inmitten des Krieges gewertet wurde. Ein EU-Diplomat bestätigte sogar explizit, dass wegen Polens Haltung zum Krieg niemand auf Konfrontationskurs mit dem Land gehen wolle.

In einem weiteren Schritt bewilligte die EU innerhalb des Befristeten Rahmens zur Krisenbewältigung und zur Gestaltung des Wandels eine Milliarde Euro, um Polens landwirtschaftliche Produzent*innen vor dem Hintergrund des Kriegs gegen die Ukraine zu unterstützen, und eine weitere Milliarde, um ungarischen Unternehmen zu helfen, die unter steigenden Energiekosten zu leiden haben.

Allerdings stellten sich die eigenen Institutionen der EU und die Zivilgesellschaft gegen ihre angebliche „Sonderbehandlung“ Polens. Im August 2023 verklagten vier zentrale Zusammenschlüsse europäischer Richter*innen die europäische Kommission wegen ihrer Genehmigung des polnischen Aufbau- und Resilienzplans. The Good Lobby Profs, ein Netzwerk von Akademiker*innen, Richter*innen und Aktivist*innen, schloss sich der Klage an. Dies veranlasste die Kommission zu ihrer Entscheidung, finanzielle Mittel nur dann freizugeben, wenn die PiS eine Reihe von rechtsstaatlichen Reformen und Maßgaben der EU erfüllt. Parallel dazu hat das kritischer eingestellte Europaparlament die Kommission dazu gedrängt, eine härtere Gangart gegenüber Warschau einzulegen.

Insgesamt hat die EU es also geschafft, zwei verschiedene Dinge auseinanderzuhalten: Dank ihres eigenen institutionellen Aufbaus und ihrer robusten Zivilgesellschaft kann sie die innere Solidarität von ihren Streitigkeiten um die Rechtsstaatlichkeit trennen, indem sie außerordentliche Maßnahmen ergreift, um dafür zu sorgen, dass ihre Regeln eingehalten werden.


Dr. Lunting Wu ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZOiS, assoziierter Mitarbeiter im Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script" und an der Arbeitsstelle Europäische Integration an der Freien Universität Berlin, sowie Fellow von FGV Europe und dem Instituto do Oriente der Universität Lissabon.

Kamil Matusiewicz macht derzeit seinen Master in Public Policy an der Hertie School und arbeitet im Projekt „Recharging Advocacy for Rights in Europe“ (RARE