ZOiS Spotlight 24/2019

Russlands drei Fronten der Zivilgesellschaft

Von Andrei Kolesnikov 19.06.2019
Konfrontation während einer Demonstration in Moskau im Juni 2019. Nikolay Vinokurov / Alamy Stock Foto

Das autoritäre Regime in Russland hat sich seit den Tagen der Präsidentschaft Boris Jelzins weiterentwickelt; der Staat ist Schritt für Schritt in die Politik, die Wirtschaft und den geistigen und sozialen Bereich zurückgekehrt. Die Repräsentationskrise in der Politik und die Erosion der staatlichen Institutionen werden von einer Nationalisierung der Zivilgesellschaft begleitet.

Bürgergesellschaft vs. öffentliche Gesellschaft

In den vergangenen Jahren hat der autoritäre Staat in Russland die Zivilgesellschaft in Segmente gespalten, in diejenigen, die mit dem Staat kooperieren, und in andere, die das nicht tun. Gleichzeitig wurde die Zivilgesellschaft durch repressive Gesetze eingeschüchtert. Dadurch „wird die Gesellschaft zu einer Kolonie des Staates“, wie es der russische Politiker Jegor Gajdar formulierte.

Im heutigen Russland wird eine echte Zivilgesellschaft – nennen wir sie Bürgergesellschaft – derzeit durch gewaltlosen, jedoch konfrontativen Widerstand geboren: durch zivilen Ungehorsam. In Russland bedeutet dieser Ungehorsam allerdings Widerstand gegen Regierungsbehörden, die selbst Gesetze verletzen (insbesondere Artikel 31 der Verfassung über die Versammlungsfreiheit). Die Regierung verfügt jedoch über allerlei Möglichkeiten, die Rechtmäßigkeit ihrer Position legal zu begründen.

Die Bürgergesellschaft steht an einer Reihe unterschiedlicher Konfrontationslinien. Die erste und wichtigste ist die Opposition zum Staat. An einer zweiten steht sie den inaktiven Teilen der Bevölkerung gegenüber. Hier geht es um die Opposition zum Menschen der Masse, der das Gegenteil von dem darstellt, was Hannah Arendt als „citoyen“ bezeichnet, und willens ist, den Staat zu unterstützen. Die dritte Konfrontation besteht gegenüber dem Teil der Gesellschaft, der unter der Aufsicht des Staates aktiv ist und mit jenen Bürgerorganisationen konkurriert, die sich dem Regime entgegenstellen.

Diese Community verlangt – und erhält – Fördermittel oder zumindest die Unterstützung des Staates. Um ihre Interaktion mit dieser öffentlichen Gesellschaft zu koordinieren, schafft die Regierung Strukturen, die Ministerien ähneln: Gesellschaftskammern oder Abteilungen der Allrussischen Volksfront, die verschiedene Arten zivilgesellschaftlicher Aktivität imitieren. Der Staat ahmt eine unabhängige Zivilgesellschaft nach, indem er Gemeinschaften und NGOs unterstützt, die unter seiner Kontrolle stehen. Einige Organisationen aus der Bürgergesellschaft sind gezwungen, ins staatlich kontrollierte Feld der öffentlichen Gesellschaft zu wechseln, wenn sie ihre Arbeit fortsetzen wollen.

Der Oberbegriff „öffentliche“ Gesellschaft kann in Russland auch auf Organisationen bezogen werden, die traditionell als Teil der konservativen Zivilgesellschaft gelten. Dabei handelt es sich um Gruppen, die direkt oder indirekt vom Staat unterstützt werden. So setzt die im Moskauer Bürgermeisteramt für die Beziehungen zu den Kosaken zuständige Abteilung offiziell Kosakenorganisationen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein. Im Mai 2018 waren dann rätselhafte Kosakenformationen am Einsatz von Gewalt gegen Demonstrant*innen beteiligt. Es stellte sich die Frage, ob nicht der Staat sein Monopol auf legitime Gewaltausübung verliert.

Eine „negative“ Plattform des Widerstands

In den vergangenen Jahren hat sich Widerstand gegen eine Reihe staatlicher Initiativen entwickelt, etwa gegen den Abriss zweier Wohnblöcke im Moskauer Stadtteil Kunzewo, die durchaus noch gut bewohnbar waren. Dort hatten der Bauträger PIK und das Moskauer Bürgermeisteramt beschlossen, neue Apartmenthäuser zu errichten. Zu nennen wäre auch der Konflikt um die Einrichtung einer Deponie für Müll aus Moskau im Gebiet Archangelsk. Es gibt zudem vielzählige Konflikte um den Bau von Kirchen, am markantesten in Jekaterinburg. Zu den bedeutendsten Protesten der gesamten Ära Wladimir Putins gehören jene gegen die Inhaftierung des investigativen Journalisten Iwan Golunow auf Grund fabrizierter Beschuldigungen (er wurde nach einer außerordentlichen Welle von Solidaritätsbekundungen freigelassen).

Vermeintlich technische Probleme werden durch die Art, in der sie angegangen werden, zu Themen von gesellschaftlicher und – unter bestimmten Bedingungen – auch politischer Relevanz. Bürger*innen  beginnen, sich zu widersetzen, und was sie zu schützen suchen, ist nicht nur persönlicher Raum und Besitz, sondern öffentliche Räume wie Parks, Plätze und Hinterhöfe. Die Verteidigung öffentlicher Räume gegen das Eindringen externer Kräfte wird in gleichsam negativer Logik zur Basis von Bürgerallianzen.

Der nächste Schritt besteht nun im Übergang von negativer zu positiver Identifikation und Solidarität. Dieser ist allerdings sehr schwer zu vollziehen, bedenkt man die zunehmende Zahl rechtlicher Verbote und Fallen. Es geht um einen Prozess der Entbürokratisierung der Zivilgesellschaft. Deren neue Methoden und Erscheinungsformen sind höchst informell und bürgerschaftliche Zusammenschlüsse äußerst flexibel und mobil. Die Bürgergesellschaft, die auf dieser neuen Grundlage erwächst, ist nicht nur ein Konglomerat von Organisationen, sie ist auch eine Gemeinschaft von Individuen, die sich nicht unbedingt zu formalen Strukturen zusammenschließen müssen.

Die Bürgergesellschaft in Russland und ihre Repräsentanten stehen vor einem Dilemma. Eine Option besteht darin, ein Abkommen mit dem Staat zu treffen und in dessen Interesse und zu dessen Bedingungen zu arbeiten. Die andere bedeutet eine Marginalisierung. Die Akteur*innen werden zu Ausgestoßenen, deren Schicksal in einem permanenten Konflikt mit dem Staat besteht. Das Ergebnis ist: In Russland nehmen Konflikte und Polarisierung zu.


Andrei Kolesnikov ist Senior Fellow und Leiter des Programms „Russische Innenpolitik und politische Institutionen“ des Carnegie Moscow Center.