ZOiS Spotlight 9/2019

Revolution in Armenien: vor und nach den Wahlen

Von Gayane Shagoyan 06.03.2019
Armeniens neuer Premierminister Nikol Paschinjan. ZUMA Press, Inc. / Alamy Stock Foto

Im sowjetischen Armenien hat man sich den Witz erzählt, dass die Berliner Mauer fiel, als die Armenier 1988 in Jerewan Massenproteste veranstalteten, um die Vereinigung mit Karabach zu erreichen, einer Enklave in der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Dreißig Jahre später, da weltweit der Trend in Richtung einer Intensivierung von Autoritarismus geht, scheint es, als würde sich Armenien nun in Richtung Demokratie bewegen.

Im Frühjahr 2018 erlebte Armenien über fünf Wochen anhaltende Proteste gegen die Regierung, die letztendlich zu den Parlamentswahlen vom 9. Dezember 2018 und dem Machtwechsel geführt haben. Die ungewöhnlich friedliche Natur dieser Ereignisse erklärt, warum einige bestreiten, dass dieser Machtwechsel, der unter dem Druck der festlich gestimmten Massen erfolgte, überhaupt eine Revolution darstellt. Gleichwohl wurde ein neues Parlament in Übereinstimmung mit der viel kritisierten Verfassung gebildet, die 2015 in einem umstrittenen Referendum verabschiedet worden war, und an die sich die neue Revolutionsregierung strikt gehalten hat.

Einige Beobachter*innen haben die Gesetzestreue der armenischen Revolutionär*innen und deren starkes Bestreben, im Einklang mit der Verfassung vorzugehen, mit der Tradition der lateinamerikanischen Revolutionen verglichen. Allerdings kann Armenien auch ein Beispiel aus der eigenen Geschichte vorweisen: Armenien war die einzige Sowjetrepublik, die versucht hat, die Sowjetunion zu verlassen und dabei sicherzustellen, dass alle Prozeduren befolgt würden, die die Sowjetverfassung vorsah.

Parlamentarische Politik ohne politische Parteien

Der armenische Frühling von 2018 kam, wie viele Revolutionen, reichlich unerwartet. Weder die Initiator*innen der Proteste, noch Politikwissenschaftler*innen hatten einen derart leicht vollzogenen und praktisch gewaltlosen Machtwechsel erwartet. Nur einen Monat später erklärten Beobachter*innen detailliert, warum die Revolution unausweichlich war. Eine Revolution sei wie ein Erdbeben, es sei zwar möglich vorauszusagen, wo eine Revolution stattfinden wird, aber nie, wann. Zeichen eines nahenden Kataklysmus wurden deutlich, als die Regierung die politische Bühne von allen Oppositionsparteien säuberte und das seinerzeit de facto bestehende Einparteiensystem stärkte: Abgeordnete der Regierungspartei hatten gegenüber allen anderen eine absolute Mehrheit. Jedwede ideologische Agenda wurde aus dem Wahlkampf entfernt; sie wurde Teil der regelmäßigen Proteste.

Auslöser der Revolution in Armenien war der Übergang vom präsidialen zu einem parlamentarischen Regierungssystem, der zu einem einzigen Zweck vorgenommen wurde, nämlich dem ehemaligen Präsidenten, der die Zahl der zulässigen Amtszeiten erreicht hatte, einen Verbleib an der Macht als Premierminister zu ermöglichen. Die Regierungspartei erinnerte – wie andere Parteien auch – an einen Club mächtiger Geschäftsleute, die ihre Parlamentsmandate allein wegen der Immunität benötigten. So wurde das neue parlamentarische System in Armenien, das als eine demokratischere Art der Regierung betrachtet wurde, eher zu einer Imitation von Demokratie.

Wahlen als Machtwechsel oder als Ende der Revolution

Bei den Parlamentswahlen vom 9. Dezember 2018 konnten Abgeordnete der revolutionären Partei Zivilvertrag zusammen mit parteilosen Abgeordneten mehr als 70 Prozent der Mandate erringen. Dadurch wurde es möglich, Nikol Paschinjan zum Premierminister Armeniens zu wählen und durch eine Legitimierung des Machtwechsels das Ende der Revolution zu markieren. Allerdings bleiben in Armenien alle Parteien weiterhin schwache Institutionen. Tatsächlich befinden sie sich sämtlich noch in einer Aufbauphase und lassen bisher eine klare ideologische Ausrichtung oder Mechanismen des Parteimanagements vermissen.

Internationale Beobachter*innen haben die armenischen Parlamentswahlen von 2018 als frei und transparent bewertet, und als das seltene Beispiel einer Wahl, die nicht umstritten war. Paschinjans Partei erlangte einen hohen Grad an Legitimität, sowohl im Parlament als auch in der Regierung. Viele Verbündete von Paschinjan, die Mitglieder der Übergangsregierung gewesen waren, sind nun Abgeordnete geworden. Allerdings ist Paschinjan noch dabei, sein neues Kabinett zusammenzustellen. Die beiden Oppositionsparteien, die ebenfalls ins Parlament eingezogen sind, stehen den revolutionären Veränderungen allenfalls in gemäßigter Opposition gegenüber. Sie hatten Paschinjan während der Revolution im Frühjahr 2018 unterstützt. Die Schwäche des postrevolutionären Armenien dürfte also auch aus dem Fehlen einer starken parlamentarischen Opposition herrühren.

Jedoch verfügt die ehemalige Regierungspartei immer noch über eine weitreichende Kontrolle der Medien, Unternehmen und finanziellen Ressourcen. Auch im Justizsystem hat es keine Veränderungen gegeben; die Richter*innen dort sind noch von der vorherigen Regierung ernannt worden und genießen nur wenig Vertrauen. Dabei sind Reformen im Justizsystem von grundlegender Bedeutung für eine nachhaltige Bekämpfung der Korruption. Auch wenn es in den oberen Etagen der Regierung derzeit keine Korruption gibt, so sieht es jedoch auf den mittleren und unteren Ebenen anders aus.

Revolutionärssyndrom in Armenien nach den Wahlen

Eine der größten Herausforderungen für Paschinjan ist die Notwendigkeit, sein revolutionäres Image in das eines Managers zu verwandeln, eine Aufgabe, die er nicht immer bewältigt hat. Er war eindeutig eher auf ein Scheitern der Revolution vorbereitet, als auf deren Sieg. Alle seine symbolischen Schritte sind nach wie vor überaus populär und überzeugend. So versucht er etwa, die Distanz zwischen Regierung und Bevölkerung möglichst gering zu halten, indem er direkte Kommunikationskanäle den indirekten über die Medien vorzieht. Daher führt er die regelmäßigen Facebook-Ansprachen fort, die er während der Revolution begonnen hatte. Mitunter bricht in seinen Reden zu unterschiedlichen Anlässen revolutionäre Rhetorik durch; er kann sich nicht gänzlich davon freimachen. Er hat sogar das neue und eher schwache Regierungsprogramm als „revolutionär“ bezeichnet, auch wenn seine Erklärungen des Revolutionären wenig überzeugten.

Was die Gegenwart anbetrifft, so hat die neue Regierung gerade erst damit begonnen, ihre Reformen und neuen Regeln der Kommunikation mit der Bevölkerung zu entwickeln. Die Effektivität des Regierungsmanagements variiert zudem stark und hängt von den individuellen Amtsinhabern ab. Als am erfolgreichsten gilt der Gesundheitsminister. Die unpopulären Posten scheinen gegenwärtig sehr viel zahlreicher zu sein, doch sind niedrige Zustimmungswerte angesichts der revolutionären Erwartungen nur natürlich. Die Euphorie der Revolution ist allerdings noch nicht verflogen. In der armenischen Diaspora ist das stärker zu beobachten, aber auch allgemein im Land selbst genießt die Regierung ein hohes Maß an Vertrauen.


Gayane Shagoyan ist Anthropologin und Senior Researcher am Institut für Archäologie und Ethnographie der Nationalen Akademie der Wissenschaften Armeniens.