ZOiS Spotlight 17/2019

Jazz, sowjetische Kultur und die Grenzen einer bipolaren Welt

Von Michel Abeßer 30.04.2019
S. Berezin, Curičenko, Bryzgunov und Leonard Orlov im Kulturhaus ‚Ėner getikov‘ Moskau 1961, Vladimir Sadkovkin, Privatarchiv Michail Kull

Heute spielst du Jazz, morgen verrätst du das Vaterland

Mit dem Beginn des Kalten Krieges startete die Kommunistische Partei der Sowjetunion in der Presse Kampagnen gegen westliche Einflüsse. Künstlerverbände verurteilten geschlossen „ideologische Fehler“ in Romanen, Gemälden und Symphonien, während gleichzeitig zahlreiche Künstler*innen, von denen viele jüdischer Herkunft waren, wegen früherer Verbindungen ins Ausland verhaftet wurden. Orchester wurden umbenannt, und Jazz verschwand von den Bühnen und aus dem Äther.

Inmitten des zunehmenden Wettstreits des Kalten Krieges erwiesen sich diese Kampagnen in Bezug auf die Versuche der Sowjetunion, als fortschrittliches System wahrgenommen zu werden, jedoch als kontraproduktiv. Und es waren diese antiwestlichen Kampagnen, die das US-State Departement dazu bewegten, in seinen Radiosendungen in Richtung sozialistischer Osten mehr und zielgerichteter Jazz zu bringen. Von einer weltweiten Förderung des Jazz versprachen sich die USA nicht nur, dass die Vorstellung von einer oberflächlichen amerikanischen Kultur zerstreut und gegen das Image der Rassendiskriminierung vorgegangen werden könne – diese bildete eine Achillesferse der USA im Wettstreit des Kalten Krieges. Darüber hinaus konnte damit die sowjetische Seite bloßgestellt und für die Ideen von Freiheit und Demokratie geworben werden, die der Jazz und die ihm eigenen Improvisation zu verkörpern schien.

Jazz oder Dschas – eine Frage des Genres

Was bedeutete der Jazz tatsächlich für westliche Radio-DJs, sowjetische Ideologen, und einfache Sowjetbürger*innen – oder eben für junge Menschen in der Sowjetunion, die das Hauptziel der US-amerikanischen Anstrengungen darstellten? Die antiwestlichen Kampagnen der späten Stalinzeit bezogen sich nicht nur auf westlichen Jazz, der per Radio oder Schallplatten aus dem Westen hineingeschmuggelt wurde, sondern auch auf die eigene, sowjetische Jazztradition.

Dschas, so der russische Begriff, hatte das Land bereits in den 1920er Jahren erreicht und war Gegenstand heftiger politischer Debatten gewesen. Der Stil, der sich in den 1930er Jahren entwickelte, hatte kaum etwas mit dem allgemeinen westlichen Verständnis von Jazz gemein: Sowetski dschas umfasste nicht nur Stilelemente westlicher Musik, sondern auch russische Folklore, Romanzen, Tango, jüdische Musik, Gesang, Sketche, Akrobatik und Agitation. Das Hybride der Musik war entscheidend für die Popularität und die ideologische Akzeptanz dieses Musikstils als wichtiger Teil der Massenkultur. Dschas gehörte zur Stalinzeit wie der Terror, die Schauprozesse und die Zwangsarbeitslager des Gulag.

Mit diesen beiden unterschiedlich Arten von Jazz in der Luft ging es bei den dahinter liegenden sozialen und politischen Konflikten um etwas Komplexeres als nur um eine Jugend, die gegen Parteiideologie aufbegehrte. Als es in den 1950er und 1960er Jahren zu einem Revival des Jazz kam, spiegelten die Diskussionen um Geschmacksfragen die Konflikte zwischen Eltern und einer nachfolgenden Generation wieder: Für erstere erinnerte dschas nostalgisch an die Unterhaltung in den 1930er Jahren, letztere – die später als schestidesjatniki („Sechziger“) bezeichnet wurden – fühlten sich von amerikanischem, polnischem und sowjetischem Jazz als Kunstmusik angezogen. Sowjetische Kultur- und Parteielite mussten sich also auch mit breiteren Schichten der Bevölkerung arrangieren, für die ein Tanzabend mit dschas einem echten Glauben an die Überlegenheit des Systems keineswegs zuwiderlief.

Parteikontrolle oder Markt? – Jazz taucht 1953 wieder auf

Aufgrund des Drucks aus der Bevölkerung, des geringeren Status von dschas in der Kulturhierarchie und Mängeln bei der Musikzensur der Partei entschied sich das Schicksal des sowjetischen Jazz nach Stalins Tod 1953 weniger auf Sitzungen von Parteigremien, als vielmehr auf dem Musikmarkt. Offiziell verwalteten die sowjetischen Konzertagenturen den Markt über ein Monopol bei der Versorgung von Restaurants mit Musiker*innen und Ensembles, bei der Organisation von Tourneen, bei der Einstellung und Ausbildung von Musiker*innen und bei der Schaffung eines ideologisch akzeptablen Unterhaltungsrepertoires.

Allerdings führten der ständige Mangel an guten Musiker*innen, die niedrigen Löhne und die Ineffizienz der Bürokratie dazu, dass die Direktor*innen dieser Agenturen Opfer ideologischer Attacken und abhängig von einer blühenden Musikschattenwirtschaft wurden. Musiker*innen, Restaurantchef*innen und Organisator*innen griffen allesamt auf diese Grauzone zurück, in der schnell ein Auftritt arrangiert, ein anderweitig nicht verfügbares Instrument gekauft oder Noten und Schallplatten besorgt werden konnten, durch die Bandleader mit neuem und erfolgreichem Material versorgt wurden.

Als der sowjetische Staat Mitte der 1950er Jahre die Konzertagenturen mit dem Ziel reformierte, durch Kostenreduzierung die finanzielle Effektivität zu erhöhen, profitierte Jazz als Unterhaltungsmusik zunehmend von diesem Wandel. Für begabte Jazzmusiker*innen, seien es nun Berufsmusiker*innen oder Amateur*innen, gab es nun sehr viele Arbeitsmöglichkeiten, was die Künstler*innen in höherem Maße immun gegen wiederholte ideologische Attacken machte. Talent begann sich allmählich gegenüber ideologischem Konformismus durchzusetzen. Das 1956 gegründete Oleg Lundstrem Orchester spielte 1958 mit 250 Auftritten 3,9 Millionen Rubel für den sowjetischen Staat ein.

Autonomie für junge Jazzfans

Wie nahmen nun die jungen Sowjetbürger*innen, das größte Zielpublikum der US-amerikanischen Radiosendungen, den amerikanischen Jazz auf? Als Reaktion auf die zunehmende Popularität der Musik begann die sowjetische Jugendorganisation Komsomol, öffentliche Räume für die wachsende urbane Jazzszene bereitzustellen. Jazzsektionen in Kulturhäusern und Jugendcafés boten Räumlichkeiten für Konzerte, Vorlesungen und Diskussionen. Plötzlich fügten sich diese Aktivitäten in die neue Politik des Komsomol, mit der Raum für kultivierte Freizeit arrangiert werden sollte, in denen die zukünftigen Erbauer*innen des Kommunismus sich weiterbilden und an sinnvoller Kulturarbeit beteiligen sollten.

Diese Räume boten eine politische Nische und schufen eine beträchtliche kulturelle Autonomie für Jazzenthusiast*innen.

Diese jungen Eliten machten den Jazz zu einer Kunstmusik, die vor einem sitzenden Publikum gespielt wurde, das durch zusätzliche Vorträge Jazzwissen vermittelt bekam. Sie knüpften informelle Kontakte zu berühmten Komponist*innen wie Dmitri Schostakowitsch, um das Ansehen der Musik zu erhöhen. Durch diese sozialen Praktiken wurde Jazz „sowjetisch gemacht“. Die Wechselwirkungen von Jazz und sowjetischen kulturellen Wertvorstellungen wurden durch eine wachsende Abneigung gegen die entstehende Rockbewegung der 1960er Jahre unterstrichen. Diese Ablehnung entwickelte sich für einige Jazzliebhaber und Parteifunktionäre zunehmend zu einer gemeinsamen Sache.

Jazz als transnationales Kulturphänomen mit seinen Ursprüngen in den USA hat seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine turbulente Entwicklung erlebt. Die sowjetische Erfahrung verdeutlicht die Fluidität dieses Genres, das im Laufe eines Jahrhunderts unterschiedliche Formen angenommen und widersprüchliche Auffassungen repräsentiert hat. Während die Aneignung und Neuerfindung des Jazz durch den politischen Einsatz von Kultur als Instrument des Kalten Krieges geprägt wurde, verhinderten die kulturellen und sozialen Ambivalenzen dieser Musik gleichwohl, dass sie sich leicht in die bipolare Welt des Kalten Krieges einfügte.


Dr. Michel Abeßer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er ist Autor des Buches "Den Jazz sowjetisch machen. Kulturelle Leitbilder, Musikmarkt und Distinktion zwischen 1953 und 1970".