ZOiS Spotlight 31/2017

„Lieber Iwan Denissowitsch!..“

Von Nina Frieß 15.11.2017
Illustration zu "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" des russischen Künstlers Oleg Besedin. Sie zeigt einen Lagerkommandanten und Häftlinge beim alltäglichen Zählappell. Oleg Besedin

Im November 1962 veröffentlichte die sowjetische Literaturzeitschrift Nowy Mir Alexander Solschenizyns Erstling Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. Der Text erzählt auf 65 Seiten von einem typischen Tag im Leben eines typischen Lagerhäftlings, des titelgebenden Iwan Denissowitsch Schuchow, einem Zimmermann bäuerlicher Herkunft, der wegen vermeintlichen Landesverrats eine zehnjährige Lagerstrafe verbüßt.

Ein Tag erschien mit ausdrücklicher Genehmigung Nikita Chruschtschows, Parteichef der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), der 1956 mit seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU die Entstalinisierung der Sowjetunion eingeläutet hatte. Die Veröffentlichung war eine Sensation, kam sie doch einer offiziellen Erlaubnis gleich, über das Unrecht zu berichten, das Millionen von Sowjetbürger*innen in den Lagern des GULag erfahren hatten. Zwar war die Existenz der sowjetischen Arbeitslager bekannt. Bis in die frühen 1930er Jahre waren sie als fortschrittliche Einrichtungen des Strafvollzugs präsentiert worden, auch und gerade mit Hilfe von Kulturschaffenden. Danach verschwand das Thema aber für fast 30 Jahre aus der – stets staatlich regulierten – öffentlichen Diskussion. Angedeutet wurden die staatlichen Repressionen gegen die eigene Bevölkerung bereits in früheren literarischen Texten, etwa in Ilja Ehrenburgs Powest Tauwetter, die  1954 – und damit nur ein Jahr nach dem Tod Josef Stalins – erschien und einer ganzen Ära ihren Namen gab. Solschenizyns Text war aber der erste, der die Zustände in den sowjetischen Lagern explizit machte: den ewigen Hunger der Häftlinge, die Zwangsarbeit unter widrigen Bedingungen, die Willkür der Lageradministration. (Drastische Schilderungen von Gewalt und Tod finden sich in Ein Tag allerdings nicht; diese hätten die auch in der Tauwetter-Periode allgegenwärtige staatliche Zensur kaum passieren können.)

Ein Tag als „one text phenomenon“

Welches Echo Solschenizyns Text in der Sowjetunion auslöste, zeigen die Leserbriefe, die Redaktion und Autor nach der Veröffentlichung erhielten.[1] Einige Leser*innen empörten sich darin über die angeblichen Lügen, die der Nowy Mir verbreite und die den Feinden der Sowjetunion in die Hände spielten, oder merkten an, dass das Thema nach den Entstalinisierungsprozessen der 1950er Jahre erledigt sei, nun müsse man in die Zukunft blicken. Die Mehrzahl der Schreibenden, darunter viele ehemalige Lagerhäftlinge, reagierte indes enthusiastisch. Ihre Briefe sind voll des Lobes und der Dankbarkeit für Redaktion und Autor für die Veröffentlichung des Textes, der, so ein Leser, ihm den Glauben an die sowjetische Literatur zurückgegeben habe. Besondere Sympathie wurde dem Helden der Geschichte zuteil, in dem sich einige der Schreibenden selbst wiederzuerkennen meinen. (Deutlich wird das, wenn in den Briefen nicht nur der Autor, sondern auch gleich sein Protagonist adressiert wird: „Verehrter Alexander Issajewitsch! Lieber Iwan Denissowitsch!..“) Viele Schreibende forderten Solschenizyn auf, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen, das längst nicht auserzählt sei, und boten ihm an, von ihren eigenen Lagererfahrungen zu berichten. Solschenizyn kam für sein Monumentalwerk Archipel Gulag auf einige dieser Angebote zurück.

Für eine kurze Zeit wurde Ein Tag das, was die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Kathleen Parthé pointiert als das „one text phenomenon“ bezeichnet: ein Text, den alle Leser*innen zu einem bestimmten Zeitpunkt zu lesen scheinen und der ihre Diskussion bestimmt.[2] Die Begehrtheit des Textes ist Thema vieler Briefe an den Nowy Mir: Im ganzen Land war die Novemberausgabe der Zeitschrift vergriffen, in den Bibliotheken gab es lange Wartelisten. Einige Leserbriefschreiber*innen flehten die Redaktion geradezu an, ihnen ein Exemplar zukommen zu lassen, „koste es, was es wolle“.

Ein Tag als Initiationstext

Ein Tag wurde zum Initiationstext der sowjetischen Lagerliteratur: Seine Publikation ermutigte andere ehemalige Lagerhäftlinge, ihre Erinnerungen zu verschriftlichen und bei Zeitschriften einzureichen. Dadurch entstand eine quantitativ kaum zu erfassende, in ihrer literarischen Qualität sicherlich durchwachsene Menge an Zeugnistexten. Doch mit dem Machtwechsel von Chruschtschow zu Breschnew schloss sich in der Sowjetunion das Zeitfenster einer relativ liberalen Geschichtspolitik. Die Memoiren Jewgenija Ginsburgs, Solschenizyns Folgewerke und unzählige weitere Texte konnten nur noch im Selbstverlag, im Ausland und in ihrer Mehrzahl gar nicht erscheinen. Ein Tag verschwand aus den Bibliotheken und wurde erst in der Perestroika wieder aufgelegt. Für einen kurzen Moment hatte der Text aber gezeigt, welche Wirkmacht Literatur haben kann; sein Verschwinden unterstreicht eindrücklich, für wie gefährlich ihn die Chruschtschow nachfolgenden sowjetischen Machthaber hielten.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte der Text seine Wiederentdeckung. Er wurde in den schulischen Lektürekanon aufgenommen und konnte sich dort im Gegensatz zu anderen Texten, die ein kritisches Bild der Sowjetunion zeichneten, behaupten. Wie inspirierend der Text für andere, nicht nur russische Kulturschaffende war und ist, zeigen seine zahlreichen Bearbeitungen. Bereits in den 1960er und 1970er Jahren war der Stoff von ausländischen Regisseuren verfilmt worden. In Russland wurde Ein Tag seit den 1990er Jahren vielfach für die Bühne adaptiert; besondere Aufmerksamkeit erfuhr dabei eine Operninszenierung, die 2009 in Perm im Ural ihre Uraufführung feierte und von einem landesweiten Medienecho begleitet wurde. Damit einher gingen Debatten um den richtigen Umgang mit dem in Ein Tag thematisierten Teil der sowjet-russischen Geschichte, die allerdings nach kurzer Zeit im Sande verliefen. Nichtsdestotrotz zeigen sie, welche Kraft in diesem Text auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Erstveröffentlichung steckt.


Nina Frieß ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS. In ihrer Dissertation hat sie sich ausführlich mit der Aktualisierung von Erinnerungen an die stalinistischen Repressionen im Russland der Gegenwart auseinandergesetzt, u.a. analysierte sie dafür die Oper „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ sowie deren Rezeption.


[1]G. A. Tjurina hat eine Auswahl dieser Briefe anlässlich des 50. Jahrestags der Erstveröffentlichung zusammengestellt. Sie ist 2012 unter dem Titel „Dorogoj Ivan Denisovič!..“ Pisʼma čitatelej 1962–1964 („‚Lieber Iwan Denissowitsch!..‘ Leserbriefe 1962–1964“) bei Russkij putʼ/Moskau erschienen. Eine Übersetzung liegt bislang nicht vor. Alle hier zitierten oder paraphrasierten Leserbriefe entstammen dieser Ausgabe.

[2]Vgl. Kathleen Parthé: Russia’s dangerous texts. Politics between the lines, New Haven u. a.: Yale University Press, S. 12.