ZOiS Report 1/2023

Education and Displacement: Ukrainian Families in Germany

Schüler*innen der Jewish International School - Masorti Grundschule in Berlin haben Bilder für die geflüchteten Kinder gemalt epd-bild/Christian Ditsch

Bildung und Flucht: Ukrainische Familien in Deutschland

Zusammenfassung (Summary)

Die Eskalation des russischen Krieges gegen die Ukraine seit Februar 2022 hat zu einer Fluchtbewegung geführt, die in diesem Ausmaß innerhalb Europas seit 1945 nicht mehr vorgekommen ist. Von den zurzeit acht Millionen Geflüchteten, die sich außerhalb der Ukraine aufhalten, sind die meisten Frauen, ein Drittel sind Kinder. Der vorliegende Report behandelt das Thema Bildung im Kontext von Flucht und konzentriert sich dabei insbesondere auf die Herausforderungen und Bedingungen, die sich in den ersten Monaten nach der Ankunft ergeben haben. Die Bildungssituation ist von herausgehobener Bedeutung für die soziale Integration von Eltern und Kindern und zusammen mit der Integration in den Arbeitsmarkt ein entscheidender Faktor, um zu verstehen, wie Ukrainer*innen über ihre Zukunft nachdenken.

Wir werten dazu zum einen die Ergebnisse einer Online-Umfrage aus, die wir im Sommer 2022 unter ukrainischen Eltern durchgeführt haben, zum anderen zahlreiche qualitative Interviews mit Eltern wie auch mit Jugendlichen. Die Ergebnisse zeigen, in welchem Maß die parallele Ausbildung in Deutschland und der Ukraine für junge Ukrainer*innen eine Doppelbelastung darstellt. Gleichzeitig beleuchtet die Forschung die Beweggründe für die Bildungsentscheidungen und zeigt, wie sich die Familien in der neuen Situation zurechtfinden. Die wichtigsten Erkenntnisse lauten:

  • Im Sommer 2022 und in den darauffolgenden Monaten haben besonders Jugendliche im Sekundarschulalter ihre ukrainische Schulbildung weiterverfolgt, selbst, wenn sie eine deutsche Schule besuchten. Dies wurde durch die Digitalisierung von Unterrichtsmaterial und -methoden erleichtert, in die der ukrainische Staat während der Corona-Pandemie investiert hatte.
  • Die Gründe, die ukrainische Schulbildung fortzuführen, haben häufig mit dem Wunsch zu tun, die eigene Identität und Sprache zu bewahren, aber auch mit der Befürchtung, dass die Zukunftsaussichten der Kinder ohne ukrainische Schulbildung gefährdet würden. Für den ukrainischen Staat ist es ausschlaggebend, Kinder in die nationalen Lehrpläne einzubinden, in der Hoffnung, die Wahrscheinlichkeit für eine mögliche Rückkehr zu erhöhen.
  • Die Aussicht auf eine Rückkehr ist der entscheidende Faktor bei den Bildungsentscheidungen. Jene Familien, die vorhaben, Deutschland so schnell wie möglich wieder zu verlassen, sind weniger motiviert, ihre Kinder auf eine deutsche Schule zu schicken. Gleichzeitig hat die bedrückende Realität des andauernden Krieges Auswirkungen auf das persönliche Wohlbefinden dieser Befragten, und jene, die sich eine schnelle Rückkehr in die Ukraine wünschen, berichten mit größerer Wahrscheinlichkeit auch über Gefühle von Lethargie. Im Gegensatz dazu sind jene, die vorhaben, auf absehbare Zukunft in Deutschland zu bleiben, stärker in ihren lokalen Gemeinschaften vor Ort involviert.
  • Das Alter der Kinder hat großes Gewicht für die Bildungsentscheidungen, die Eltern treffen. Besonders für Teenager ist der Übergang in das deutsche Bildungssystem aufgrund von Sprachbarrieren, aber auch wegen unterschiedlicher Erwartungen und Unterrichtskulturen schwieriger. Schüler*innen, die sich dem Ende der Sekundarstufe nähern, stehen zudem vor der Herausforderung, von der Schule in eine Berufsausbildung oder ein Studium zu wechseln, was ohne deutsche Sprachkenntnisse und anerkannte Abschlüsse besonders schwierig ist.
  • Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem finanziellen und sozialen Status der Eltern und dem Grad, in dem sie sich in die Ausbildung ihrer Kinder einbringen. Jene mit einem höheren finanziellen und sozialen Status nehmen signifikant mehr Anteil an der Ausbildung ihres Kindes und äußern höhere Erwartungen an dessen Ausbildung in Deutschland. Sie setzen sich stärker dafür ein, dass ihr Kind eine reguläre Klasse anstatt einer Integrationsklasse besucht. Sozioökonomische Ungleichheiten aus dem Herkunftsland werden also im Gastland reproduziert.
  • Die Bildungssysteme in der Ukraine und Deutschland unterscheiden sich stark. Einige ukrainische Familien zeigen sich frustriert über das in ihren Augen niedrige Niveau und langsame Lerntempo an deutschen Schulen und machen sich Sorgen über mögliche Folgen für eine angedachte Rückkehr. Andere wiederum loben den kindzentrierten Bildungsansatz, auf den sie getroffen sind sowie den respektvollen Umgang mit jungen Menschen und die Art, wie deutsche Behörden auf sensible Weise mit geflüchteten Kindern umgehen.
  • Das deutsche Bildungssystem war bereits vor der Ankunft ukrainischer Kinder an seiner Belastungsgrenze und hat diese an vielen Orten jetzt überschritten. Dank des Engagements auf lokaler Ebene und einer pragmatischen Herangehensweise konnte dennoch nahezu jedes von ihnen in lokale Schulen integriert werden.