ZOiS Spotlight 35/2020

Traditionalisten versus orthodoxe Christen in Nordossetien-Alanien

Von Sergei Shtyrkov 30.09.2020
Die Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche in Wladikawkas, Nord Ossetien-Alanien. © Sergei Shtyrkov

Am 22. September 2020 wurde in der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Nordossetien-Alanien ein großes neues orthodoxes Bildungszentrum eröffnet. Bei der feierlichen Eröffnung betonte Wjatscheslaw Bitarow, das Oberhaupt der Republik, dass das ossetische Volk durch jahrhundertealte Traditionen mit dem orthodoxen Christentum verbunden sei. Diese Erklärung könnte weitreichende Folgen haben, da die Region in den letzten Jahren von einem Kampf zwischen örtlichen Traditionalist*innen und orthodoxen Christ*innen heimgesucht worden ist: Diese beiden religiösen Gruppen ringen um die Vorherrschaft in der Region. In der Russischen Föderation gibt es zwar offiziell keine Staatsreligion, doch lässt sich die Glaubensfrage nicht von Fragen der politischen Orientierung in Bezug auf Russland oder aber die lokale nationale Identität trennen.

In diesem angespannten Klima können scheinbar unwesentliche Zwischenfälle schwerwiegende Auswirkungen haben. Im Juli 2019 brach durch einen Kommentar, der auf Facebook geteilt wurde, ein Streit aus. Der wenig bekannte Politiker Roman Gabarajew hatte unter Anspielung auf eine kurz zuvor abgehaltene orthodoxe Prozession geschrieben: „Wenn ihr [Orthodoxen] mit euren Ikonen, Priestern, Reliquien und all dem anderen Schrott doch aus Ossetien verschwinden würdet!“

Der Kommentar wurde unter anderem in einer Gruppe gepostet, deren traditionalistische Mitglieder den vorchristlichen, ethnisch geprägten ossetischen Glauben wiederauferstehen lassen wollen. Sie orientieren sich an einer negativen Haltung gegenüber dem orthodoxen Christentum, das sie als eines der wichtigsten Instrumente zur Assimilierung einer ethnisch nichtrussischen Bevölkerungsgruppe betrachten. Für diese Traditionalist*innen ist jede Variante des Christentums eine „unossetische“ Erscheinung.

Orthodoxie in Ossetien: de-facto-nationale Religion oder persönliche Entscheidung?

Diese Vorstellung von orthodoxem Christentum widerspricht der vorherrschenden Sicht auf die Osset*innen als dem einzigen orthodoxen Volk im Nordkaukasus. Folgt man dem offiziellen Narrativ, so haben ihre Vorfahren, die Alanen, den christlich-orthodoxen Glauben Anfang des zehnten Jahrhunderts aus Byzanz übernommen. Heute schickt sich die Republik an, den 1100. Jahrestag der Annahme des Christentums durch die Alanen zu feiern. Dieses Image von Nordossetien als einer christlich-orthodoxen Region wird nicht nur von orthodoxen Gläubigen vorangetrieben, sondern auch von der Regierung der Republik. Die hatte bis vor Kurzem das orthodoxe Christentum unablässig als gemeinsame geistige Grundlage für Russ*innen und Osset*innen dargestellt, um ihre Loyalität gegenüber dem Zentrum der Russischen Föderation zu demonstrieren.

Bald nach Gabarajews Facebook-Eintrag erfuhren viele orthodoxe Gläubige von seinem Kommentar. Nach fünf Tagen erschien ein Brief aus der orthodoxen Öffentlichkeit an das Oberhaupt der örtlichen Diözese und wurde weithin in den sozialen Medien verbreitet. Der Brief rief Leonid Gorbatschow, den Erzbischof von Wladikawkas und Alanien, dazu auf, die orthodoxen Gläubigen vor der Feindseligkeit ethnischer religiöser Traditionalist*innen zu schützen.

Das orthodoxe Christentum scheint in Nordossetien-Alanien de facto die Nationalreligion zu sein. Allerdings gibt es in dieser Republik – anders als in vielen anderen Regionen Russlands – viele, die die Orthodoxie nicht als Fundament der nationalen Identität wahrnehmen, sondern die Zugehörigkeit zu ihr als Ergebnis einer persönlichen Entscheidung. Ihrer Meinung nach sollte die Regierung der Republik der orthodoxen Kirche keine speziellen Vorteile im öffentlichen Raum gewähren.

Aus der Sicht vieler orthodoxer Aktivist*innen hingegen hat die Kirche jedes Recht, diese Vorteile zu genießen, da dies die Bindung von Nordossetien-Alanien zu Russland als Ganzem verdeutlicht. In einem Kontext, in dem eine Entscheidung für die Orthodoxie als Religion eine persönliche Angelegenheit darstellt, würde in den Augen der orthodoxen Gläubigen die Position der Orthodoxen Kirche von der wechselhaften Politik der jeweiligen Republiksregierung abhängig sein.

Bislang hatte Wjatscheslaw Bitarow keine sonderliche Loyalität gegenüber der Orthodoxie gezeigt. Vielmehr demonstrierte er, dass er die ethnischen Traditionen befolgt, unter anderem auch das, was einige als ossetischen Volksglauben bezeichnen, nämlich Pilgerfahrten zu lokalen Heiligtümern und rituelle Gebetsmahle.

Zurück zu einer monotheistischen Urreligion?

Anhänger*innen ethnischer Revitalisierungsbewegungen, die seit Ende der 2000er Jahre in der Republik aktiver geworden sind, interpretieren diesen traditionalistischen Trend als ideologische Unterstützung für ihre Anliegen. Aktivist*innen dieser Bewegungen versuchen enthusiastisch, eine wahre ossetische Religion wiederherzustellen, wie sie sie in dem ursprünglichen arischen Monotheismus erkennen. Die Aktivitäten dieser Bewegungen implizieren zweifelsohne, dass die Präsenz der Orthodoxie als Mehrheitsreligion im öffentlichen Raum begrenzt wird.
Orthodoxe Gläubige in der Republik haben Gabarajews Worte als Teil dieser Politik verstanden, die angeblich Unterstützung durch die Regierung erfährt.

Das hat orthodoxe Aktivist*innen und Repräsentant*innen der Kirche besonders nervös gemacht. Sie befürchten, dass die Kirche ihre Position in der Republik verlieren könnte. Deshalb behandelte Erzbischof Gorbatschow, als er auf den offenen Brief reagierte und die Situation unter Kontrolle zu bringen versuchte, die Kritik der Traditionalisten am orthodoxen Christentum wie einen Akt des Separatismus: „Ich werde nicht zulassen, dass die geistige und staatliche Nabelschnur reißt, die unser großes Vaterland Russland mit unserer kleinen Heimat Ossetien verbindet.“

Ein örtliches Gericht verurteilte Gabarajew für seinen Kommentar zu einer kleinen Geldstrafe. Der reagierte hierauf mit der Bemerkung: „Das ist kein hoher Preis, wenn man dafür die Osset*innen wissen lassen kann, dass sie ihre eigene Religion haben.“ Für ihn und seine Verbündeten war der Kampf noch nicht vorbei.

Fortsetzung eines fundamentalen Konflikts

Auch für Erzbischof Gorbatschow war er noch nicht vorbei. Im November 2019 sagte er in einer Predigt, dass eine ethnisch-ossetische Religion eine moderne Erfindung darstelle, und dass jedwede Behauptung über die arischen Wurzeln der ossetischen Traditionen völliger Unsinn sei.
Eine Tonaufzeichnung dieser Predigt fand schnell in den sozialen Medien Verbreitung und sorgte bei vielen – und selbst bei gemäßigten – Traditionalist*innen für Empörung. Seine abfälligen Bemerkungen über eine angeblich erfundene Genealogie der ethnisch-ossetischen Religion wurden als mangelnder Glaube an die altertümlichen Wurzeln der gesamten ossetischen Kultur interpretiert.

Bitarow zeigte sich indes wenig beeindruckt. Schließlich ist das 1100-jährige Jubiläum des Christentums in Nordossetien–Alanien ein zu wichtiger Anlass für Feierlichkeiten, als dass man hier Moskau vor den Kopf stoßen wollte. Also versprach Bitarow in einer versöhnlichen Geste an Erzbischof Gorbatschow im Juli 2020, dass Wirtschaftskreise der Republik die Diözese bei der Vorbereitung der Feierlichkeiten unterstützen würden. Diese Mittel sollen jene Gelder aus Moskau ergänzen, die im Rahmen eines Programms eingehen, das die Einheit der russischen Nation stärken soll. Im Fall von Nordossetien-Alanien ist klar, dass diese Gelder dazu dienen, zu zeigen, wie sehr das orthodoxe Christentum in der Republik verwurzelt ist.

So werden in den Fresken der Kapelle des neuen Bildungszentrums viele Ereignisse der ossetischen Geschichte im Kontext des orthodoxen Christentums dargestellt. Ein Journalist aus der Region formuliert es folgendermaßen: „Bei der Betrachtung dieser Fresken wird deutlich, dass das Christentum für Osset*innen tatsächlich den traditionellsten Glauben darstellt.“ Vorerst sieht das Erzbistum Wladikawkas und Alanien seine Position in der Republik gestärkt. Kurzfristig könnte dieser Erfolg den fundamentalen Konflikt um die religiöse Identität der Osset*innen überdecken, wird ihn in den kommenden Jahren jedoch wohl kaum lösen.


Sergei Shtyrkov ist Sozialanthropologe und Associate Professor an der Europäischen Universität in St. Petersburg. Darüber hinaus ist er Senior Research Fellow in der Kaukasus-Abteilung des Museums für Anthropologie und Ethnographie (Kunstkammer), einer Forschungseinrichtung der Russischen Akademie der Wissenschaften.