ZOiS Spotlight 28/2021

Schwierige Bedingungen für das neugewählte Parlament in Armenien

Von Nane Khachatryan 21.07.2021
Kundgebung von Ministerpräsident Nikol Paschinjan in Jerewan nach dem Sieg bei den Parlamentswahlen in Armenien. IMAGO / NurPhoto

Am späten Samstagabend hat das Verfassungsgericht in Armenien die Klage mehrerer Oppositionsparteien gegen das offizielle Ergebnis der vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni abgelehnt. Der amtierende Regierungschef Nikol Paschinjan hatte überraschend deutlich vor seinem Herausforderer, dem Ex-Präsidenten Robert Kotscharjan, gelegen. Dessen Wahlbündnis hatte daraufhin von massiver Wahlfälschung gesprochen. Internationale und lokale Wahlbeobachter versichern dagegen, die Wahlen seien fair und frei abgelaufen. Nach endgültigen Ergebnissen der Zentralen Wahlkommission ziehen künftig drei Kräfte ins Parlament ein: die Partei Zivilvertrag von Ministerpräsident Paschinjan mit einer überwiegenden Mehrheit der Stimmen (53,91  Prozent), gefolgt vom Block Armenien (21,09 Prozent) und dem Wahlbündnis „Ich habe die Ehre“ (5,22 Prozent).

Comeback der ehemaligen Staatschefs

Acht Monate nach dem Krieg um Berg-Karabach, in dessen Folge Armenien Gebiete an Aserbaidschan übergeben musste, und in einer Situation der tiefen politischen Nachkriegskrise fanden am 20. Juni 2021 in Armenien vorgezogene Wahlen zur Nationalversammlung statt. Diese Parlamentswahlen unterschieden sich von allen vorangegangenen vor allem dadurch, dass eine noch nie dagewesene Anzahl von Parteien und Allianzen zugelassen wurde (21 Parteien und 4 Bündnisse). Außerdem nahmen die drei ehemaligen Präsidenten Armeniens und der amtierende Premierminister Paschinjan mit ihren jeweiligen Parteien und Blöcken teil.

Stärkster Konkurrent Paschinjans war Ex-Präsident Robert Kotscharjan (1998-2008), den die Allianz Armenien als Spitzenkandidat aufgestellt hatte. Kotscharjans Comeback in der Politik begann, nachdem die nach der Samtenen Revolution 2018 gegen ihn erhobenen Anklagen fallengelassen worden waren. Ihm wurden aufgrund des harten Vorgehens gegen Demonstrierende im Zuge der Präsidentschaftswahl 2008 Sturz der Verfassungsordnung sowie der Erhalt einer hohen Bestechungssumme vorgeworfen.

Anstelle eines ideologischen Kampfes wurden die Wahlen schnell zu einem Wettlauf zwischen Individuen. Es waren keine signifikanten Widersprüche in den Wahlprogrammen der Hauptfavoriten zu finden. Im Wesentlichen ging es um die friedliche Lösung des Karabach-Konflikts im Rahmen der OSZE-Minsk-Gruppe, die Modernisierung und Neuausrüstung der Armee und die Vertiefung der Sicherheitskooperation mit Russland.

Ein harter Wahlkampf mit allen Mitteln

Der Wahlkampf wurde insgesamt sehr aggressiv geführt. Gegenseitige Anschuldigungen, Hassbotschaften, Fake News und Medienpropaganda waren an der Tagesordnung. Paschinjan forderte ein „eisernes Mandat“ von seinen Wähler*innen, um „die Samtene Revolution in die Eiserne‘“ zu verwandeln und eine „Diktatur des Gesetzes und Rechtes“ zu etablieren. Kotscharjan lehnte die Einladung zu einem Fernsehduell ab und bekundete stattdessen, er sei bereit zu einem Duell „mit freier Waffenwahl“.

Die aggressive Rhetorik der Politiker polarisierte die gespaltene Gesellschaft weiter. Dazu trugen auch bestimmte Medien mithilfe manipulativer und falscher Informationen bei. Eine besondere Rolle in dieser Wahlkampagne spielten auch die in den sozialen Netzwerken agierenden Fake-Fabriken. Sie versuchten, den Eindruck einer breiten öffentlichen Unterstützung dieser oder jener Kraft zu erwecken und dadurch die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Auch Umfragen, beispielsweise der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti, prognostizierten eher den Sieg von Kotscharjans Block.

Die Wahlergebnisse zeigten hingegen, dass die dargestellte (virtuelle) Realität nicht die tatsächlich vorhandene Stimmung in der Gesellschaft widerspiegelte. Bei diesen Wahlen hat wohl die Angst vor der Rückkehr des ehemaligen Regimes in der Gesellschaft eine entscheidende Rolle gespielt. Eine Angst, die drei Jahre nach der Revolution größer als die Enttäuschung über Armeniens Niederlage im Krieg um Berg-Karabach war. Das propagierte Bild, dass Kotscharjans Wahlsieg realistisch sei, hat scheinbar viele Wähler*innen dazu gedrängt, ihre Stimme doch Paschinjan zu geben. Er konnte davon profitieren, dass seine Hauptgegner die alten Eliten waren.

Wahlen: demokratisch oder manipuliert?

Wahlbeobachtermissionen (der OSZE/ODIHR und der EU sowie der GUS und OVKS) bescheinigten den Wahlen, sie seien gut organisiert gewesen und die registrierten Verstöße hätten keinen Einfluss auf deren Ausgang gehabt. Trotz der Behauptungen der Opposition, die Wahl sei manipuliert worden und der Klage gegen das Ergebnis vor dem Verfassungsgericht, kam es zu keinen Protesten im Land, wie es öfter in der Geschichte Armeniens der Fall war.

Nach den Wahlen traf sich Paschinjan mit einer Reihe von Führern der außerparlamentarischen Kräfte. Dabei ist geplant, ein Beratungsgremium zu gründen, damit auch Letztere am politischen Prozess teilnehmen können. Das Ziel des Ministerpräsidenten dürfte sein, auf diese Weise ein größeres Gegengewicht zur parlamentarischen Opposition zu bilden.

Vertreter*innen der Zivilgesellschaft appellierten ihrerseits in einer gemeinsamen Erklärung an die wiedergewählte Regierung, ihrer historischen Aufgabe nachzukommen und alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um das Land aus der aktuellen Krise zu führen und die gesellschaftliche Polarisierung zu überwinden. Sie nennen mehrere Bereiche, in denen dringende Lösungen erforderlich sind und fordern etwa die Klärung des rechtlichen Status der Grenz- und Kommunikationssicherheit, die Rückkehr der Kriegsgefangenen, die Bildung einer Wahrheitskommission, um die Fehler der vergangenen 30 Jahre zu analysieren, und die Untersuchung der Ursachen und Folgen des Krieges um Berg-Karabach.

Paschinjans zweite Chance

Die innenpolitische Konfrontation und Polarisierung werden nun in die neu gewählte Legislative getragen. Kotscharjan spricht von einem noch härteren Kampf im Parlament, auch wenn er selbst sein Abgeordnetenmandat nicht annehmen wird. Seine Allianz wirft Paschinjan Verfolgung und Unterdrückung politischer Gegner vor, da seit den Wahlen bereits sechs Bürgermeister und Anhänger des Blocks Armenien wegen des Vorwurfs der Wählerbestechung und Korruption verhaftet wurden.

Diesmal wird auch die von Paschinjan geführte Kraft nicht über eine Dreifünftelmehrheit im Parlament verfügen, die zum Beispiel bei der Wahl des Präsidenten der Republik oder des Ombudsmanns benötigt wird. Unter den Bedingungen einer solchen Konstellation der im Parlament vertretenen Parteien ist es schwierig, sich Zusammenarbeit und Kompromisse vorzustellen. Dies könnte zu weiteren Krisen oder sogar zu neuen vorgezogenen Wahlen führen.

Gut durchgeführte Wahlen sind noch keine Garantie für Demokratie. Der wiedergewählten Regierung Paschinjans wurde eine zweite Chance gewährt, die während der Samtenen Revolution versprochenen Reformen umzusetzen. Dabei müssen die sowohl vor als auch nach der Revolution gemachten Fehler politisch und juristisch angemessen bewertet werden. Das Anerkennen eigener Fehler seitens der politischen Kräfte wäre in dieser Nachkriegsphase für die Zukunft Armeniens von großer Bedeutung.


Nane Khachatryan promoviert im Fach Politikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zur Transformation des Parteiensystems in Armenien.