ZOiS Spotlight 13/2021

Russland und das Selbstbestimmungsrecht der Völker

Von Johannes Socher 07.04.2021
Südossetien feierte 2018 den 10. Jahrestag der Anerkennung seiner Unabhängigkeit von Georgien durch Russland. IMAGO / ITAR-TASS / Valery Sharifulin

Russland und das Selbstbestimmungsrecht der Völker stehen in einem komplizierten Verhältnis. Historisch geht seine Entwicklung als völkerrechtlicher Grundsatz maßgeblich auf die Sowjetunion zurück, andererseits wurde seine Bedeutung im sowjetischen Einflussbereich pervertiert. So wurde beispielsweise der Einmarsch der Roten Armee in die Tschechoslowakei 1968 mit dem Bestehen eines „sozialistischen Selbstbestimmungsrechts“ begründet, das – notfalls militärisch – geschützt werden müsse.

Im Grundsatz garantiert das Selbstbestimmungsrecht allen Völkern, frei über ihren politischen Status und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Die Verfassung der Russischen Föderation erwähnt es an zwei zentralen Stellen. Anders als ihre sowjetischen Vorgängerinnen gewährt sie allerdings kein Recht auf Sezession und auch in der russischen Verfassungslehre wird ein solches Recht für die Subjekte der Russischen Föderation strikt abgelehnt. Zwei frühe Urteile des russischen Verfassungsgerichts bestätigten diese generelle Abwägung, in denen das Selbstbestimmungsrecht als völkerrechtlicher Grundsatz zwar diskutiert wurde, aber letztlich hinter der staatlichen Souveränität Russlands zurücktreten musste.

Außerhalb der Staatsgrenzen der Russischen Föderation war die russische Staatspraxis zum Selbstbestimmungsrecht bis zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo von Serbien im Jahr 2008 relativ konsistent. Bis dahin sah sich Russland an die zahlreichen internationalen Verträge gebunden, in denen sich die ehemaligen Sowjetrepubliken die Unverletzlichkeit der Grenzen und die territoriale Integrität gegenseitig zugesichert hatten. Russland erkannte insbesondere auch keine der vier sezessionistischen Republiken im postsowjetischen Raum als unabhängige Staaten an, die sich im Zerfallsprozess der Sowjetunion von den verschiedenen Sowjetrepubliken abgespaltet hatten: Bergkarabach in Aserbaidschan, Transnistrien in Moldau sowie Abchasien und Südossetien in Georgien. Andererseits beeinflusste Russland die Verhandlungsprozesse in allen vier Konflikten als Mediator und sicherte sich insbesondere die Zustimmung der Konfliktparteien, russische Soldaten in Form von Friedenstruppen zu stationieren. Die starke Einflussnahme auf militärischer, politischer und wirtschaftlicher Ebene brachte beispielsweise den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Schluss, dass Russland effektive Kontrolle über die transnistrischen Autoritäten ausübt – eine Einschätzung, die von russischer Seite vehement bestritten und als „politisiert“ zurückgewiesen wurde.

Russische Staatspraxis nach dem Fall „Kosovo“

Mit der 2008 erfolgten Anerkennung Abchasiens und Südossetiens als von Georgien unabhängige Staaten kurz nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo änderte sich Russlands Staatspraxis zum Selbstbestimmungsrecht außerhalb des eigenen Staatsgebiets. Der offiziellen russischen Begründung zufolge hatte die Bevölkerung Südossetiens nach dem Angriff georgischer Truppen auf die ossetische Stadt Zchinwali ein Sezessionsrecht – eine Behauptung, die auf stark übertriebenen Opferzahlen beruhte, die später von Russland selbst nach unten korrigiert wurden. Die dieser Begründung zugrunde liegende Rechtsansicht – dass das Selbstbestimmungsrecht in „extremen Situationen“ ein Sezessionsrecht verleihen kann – war allerdings konsistent mit der vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) vorgetragenen Position im Kosovo-Fall. Russlands Schriftsatz an den IGH zeigt deutlich, dass es dem Kosovo die Anerkennung als unabhängigen Staat nicht aufgrund einer anderen Auslegung des Selbstbestimmungsrechts verweigert, sondern weil es die Logik mancher Staaten nicht akzeptiert, wonach Kosovo ein „spezieller“ Fall sein soll, der nicht mit anderen Sezessionskonflikten verglichen werden könne.

Mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 schließlich zeigte sich, wie Russland das Selbstbestimmungsrecht der Völker instrumentalisierte, um die gewaltsame Angliederung ukrainischen Territoriums zu rechtfertigen. Russlands Hauptargument für die Rechtmäßigkeit der Annexion basiert ähnlich wie im Falle Südossetiens auf der Behauptung, die Ukrainische Revolution habe eine „extreme Situation“ hervorgerufen, in der die Bevölkerung der Krim ihr Selbstbestimmungsrecht nicht länger innerhalb der Ukraine habe ausüben können.

Russischer und internationaler Völkerrechtsdiskurs

Betrachtet man den Diskurs zum Selbstbestimmungsrecht in der russischen Völkerrechtslehre, so lassen sich interessanterweise auch schon vor der Annexion der Krim einige Besonderheiten feststellen. Bis zu einem gewissen Grad können diese Besonderheiten mit einem anhaltenden Erbe der sowjetischen Völkerrechtsdoktrin erklärt werden, so insbesondere die Auffassung, das Selbstbestimmungsrecht beinhalte seiner Konzeption nach ein Recht auf Sezession. Bis 2014 bewegten sich die Positionen dabei mehr oder weniger innerhalb des internationalen Kanons. Dies änderte sich endgültig mit der Annexion der Krim, die es russischen Völkerrechtlern unmöglich machte, dem bisherigen Konsens weiter zu folgen, ohne dabei die Praxis „ihres“ Staates zu kritisieren. An seine Stelle traten rechtfertigende Argumentationen der einflussreichsten russischen Völkerrechtler auf der Grundlage historisch-großrussischer Ansprüche und kreativer Neuinterpretationen des Selbstbestimmungsrechts.

Selbstverständlich könnte man vor dem Hintergrund der dargelegten Beispiele Russlands Ansatz gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Völker auf eine als rechtliche Rhetorik getarnte Machtpolitik reduzieren. Komplexere Einsichten gewinnt man allerdings, wenn man ihn als Ausdruck eines anhaltenden Hegemonialanspruchs im postsowjetischen Raum versteht, der auf nach wie vor bestehenden Vorstellungen über die Notwendigkeit eines Gleichgewichts der Kräfte basiert. Zugespitzt ergibt sich so die Frage, inwieweit dadurch der Universalitätsanspruch des Völkerrechts in Gefahr gerät. Denn für die Auslegung des Selbstbestimmungsrechts und die Frage, welche Rolle in diesem Zusammenhang verwandte völkerrechtliche Konzepte wie territoriale Integrität, Sezession, Referendum oder das Gewaltverbot spielen (sollen), besteht innerhalb und außerhalb Russlands nicht einmal ein Minimalkonsens, der ein gemeinsames Völkerrechtsverständnis ermöglichen würde. Der Weg hin zu einem solchen universellen Referenzrahmen kann nur über ernsthafte Versuche führen, derartige Übersetzungsprobleme unterschiedlicher Völkerrechtsverständnisse zu überbrücken.


Johannes Socher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin. Seine Dissertation "Russia and the Right to Self-Determination in the Post-Soviet Space" wurde mit dem Klaus-Mehnert-Preis 2020 ausgezeichnet und erscheint in Kürze bei Oxford University Press.